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Liebesmorgen. An A. L.

Gelagert sprachlos saßen wir im Kreise,
Ein Jeder sann den Morgenträumen nach;
Da öffnete die Pforte sich, und leise
Tratst du herein und standst in dem Gemach;

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Und neigtest dich nach deiner holden Weise,

Verschämt und kaum vom ersten Schlummer wach;
Und blicktest schüchtern auf, uns mit den süßen
Schlaftrunknen Aeuglein halb im Traum zu grüßen.

Ist das der Blick, der aus der Locken Kranze

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So stolz hervorgeleuchtet und gesiegt?

Ist das die Brust, die sonst bei Fest und Tanze
In weicher Seide schwellend sich gewiegt?
O wie sie nun sich frei, von allem Glanze,
So fromm in die bescheidnen Tücher schmiegt!

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Wie schmückt das Haar so schlicht der Stirne Bogen,

Wie hat der Blick sich scheu zurückgezogen!

O dürft’ ich als die Meine dich begrüßen
In dieser keuschen, stillen Morgentracht,
Wo nur der Sonne Lichter dich umfließen,

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Nicht eitler Lampenschein und falsche Pracht.

O dürft’ ich diesen milden Reiz umschließen,
Nach jeder einsam durchgehofften Nacht
Dir liebend in dein Morgenantlitz blicken,
Ans Herz dich, den verhüllten Himmel, drücken!

 Schwab.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Deutscher Dichterwald. Von Justinus Kerner, Friedrich Baron de La Motte Fouqué, Ludwig Uhland und Andern. J. F. Heerbrandt’sche Buchhandlung, Tübingen 1813, Seite 126. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutscher_Dichterwald_138.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)