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An Elise.

Was in mir tief das Heilige ich nenne,
Das, was die Brust in zarter Sehnsucht hebt,
Wie innig fühl’ ich’s deinem Seyn verwebt:
O wohl mir, wohl mir, daß ich dich erkenne!

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Wir müssen durch das farb’ge Leben streifen,

Und ach! uns spricht nicht Ton, nicht Farbe an,
Ja Alles, was das Daseyn schmücken kann,
Wir können nicht, so viel wir haschen, greifen.

Wir klimmen muthig auf des Sinnes Hügel,

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Uns reitzt der sonnenhelle, lichtbegränzte Pfad;

Und ob wohl Einer ihn erklommen hat? –
Nein – Alle sanken mit gebrochnem Flügel!

Wir strecken unsre Hand aus in die Streifen,
Womit der Regenbogen Liebe uns umzieht,

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Der ewig in die graue Ferne zieht,

Wenn wir im Kinderwahne nach ihm greifen.

Es keimt und sproßt der Glaube nur so lange,
Bis der Verstand die schöne Knospe lüftet,
Die süße Blüte! ach, wie schnell verdüftet!

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Der Weg wird hell, das Herz so öd’ und bange.


Doch Eines kenn’ ich, das die Brust umziehet,
Wie Frühlingsluft, wie Sphärenmelodie,
Es ist der Himmelsfunke – Sympathie
Der still im Herzen der Verwandten glühet.

 Amalia.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Deutscher Dichterwald. Von Justinus Kerner, Friedrich Baron de La Motte Fouqué, Ludwig Uhland und Andern. J. F. Heerbrandt’sche Buchhandlung, Tübingen 1813, Seite 89. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutscher_Dichterwald_101.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)