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Die Wandnachbarin.

1
Hätt’ ich eine Wandnachbarin,

Kniet’ ich wie vorm Altar hin,
Pochte wohl mit leiser Hand
An der ahnungsvollen Wand.

5
Morgens mit des Frühroths Schein

Sollt’ mein erstes Wörtlein seyn:
Holde! schau den Morgenstern,
Schau ihn an, wie ich, so gern!

Abends rief’ ich recht mit Fleiß:

10
Merk den Mond, er ist so weiß,

Wie so weiß und wie so blank!
Kind! er ist wohl liebekrank.

Heute fühlt er tiefes Sehnen,
Sternlein klein sind seine Thränen;

15
Schau nur auf die Venusthrän’,

Die ist ganz besonders schön!

Und die Wölklein groß und klein,
Hüllen einen Busen ein. –
Auf das blaue Himmelskleid

20
Schau’n die Englein selbst mit Freud’.


Sieh nur wie das Mondenlicht
Schwache Wölklein nun durchbricht,
Wie es kühner stets und freier
Quillt aus ihrem Busenschleier! –

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Deutscher Dichterwald. Von Justinus Kerner, Friedrich Baron de La Motte Fouqué, Ludwig Uhland und Andern. J. F. Heerbrandt’sche Buchhandlung, Tübingen 1813, Seite 71. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutscher_Dichterwald_083.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)