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Genofeva aber weinte und bätete in der öden Wildniß; ihr Kind war noch nicht dreißig Tage alt, und sie hatte keine Milch mehr in ihren Brüsten, womit sie es ernähren könnte. Wie sie nun die heilige Jungfrau um Beistand flehte, sprang plötzlich eine Hindin durchs Gesträuch, und setzte sich neben das Kind nieder; Genofeva legte die Zitzen der Hindin in des Knäbleins Mund und es sog daraus. An diesem Orte blieb sie sechs Jahre und drei Monate; sie selbst aber nährte sich von Wurzeln und Kräutern, die sie im Walde fand; sie wohnten unter einer Schichte von Holzstämmen, welche die arme Frau, so gut sie konnte, mit Dörnern gebunden hatte.

Nach Verlauf dieser Zeit trug sich’s zu, daß der Pfalzgraf gerade in diesem Wald eine große Jagd anstellte; und da die Jäger die Hunde hetzten, zeigte sich ihren Augen dieselbe Hirschkuh, die den Knaben mit ihrer Milch nährte. Die Jäger verfolgten sie; und weil sie zuletzt keinen andern Ausweg hatte, floh sie zu dem Lager, wohin sie täglich zu laufen pflegte, und warf sich, wie gewöhnlich, zu des Knaben Füßen. Die Hunde drangen nach, des Kindes Mutter nahm einen Stock und wehrte die Hunde ab. In diesem Augenblick kam der Pfalzgraf hinzu, sah das Wunder, und befahl, die Hunde zurück zu rufen. Darauf fragte er die Frau, ob sie eine Christin wäre? Sie antwortete: ich bin eine Christin, aber ganz entblößt; leih mir deinen Mantel, daß ich meine Schaam bedecke. Siegfried warf ihr den Mantel zu, und sie bedeckte

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Brüder Grimm: Deutsche Sagen, Band 2. Nicolai, Berlin 1818, Seite 283. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutsche_Sagen_(Grimm)_V2_303.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)