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524.
Graf Hubert von Calw.
Crusius annales suevici. Francof. 1595. dodecas II. p. 263.


Vor alten Zeiten lebte zu Calw ein Graf in Wonne und Reichthum, bis ihn zuletzt sein Gewissen antrieb, und er zu seiner Gemahlin sprach: „nun ist von Nöthen, daß ich auch lerne, was Armuth heißt, wo ich nicht ganz will zu Grunde gehen.“ Hierauf sagte er ihr Lebewohl, nahm die Kleidung eines armen Pilgrims an, und wanderte in die Gegend nach der Schweiz zu. In einem Dorfe, genannt Deislingen, wurde er Kuhhirt, und weidete die ihm anvertraute Heerde auf einem nahgelegenen Berge mit allem Fleiß. Wiewohl nun das Vieh unter seiner Hut gedieh und fett ward: so verdroß es die Bauern, daß er sich immer auf dem nämlichen Berge hielt, und sie setzten ihn vom Amte ab. Da ging er wieder heim nach Calw, und heischte das Almosen vor der Thüre seiner Gemahlin, die eben ihre Hochzeit mit einem andern Mann feierte. Als ihm nun ein Stück Brod herausgebracht wurde, weigerte er es anzunehmen, es wäre dann, daß ihm auch der Gräfin Becher voll Wein dazu gespendet würde. Man brachte ihm den Becher, und indem er trank, ließ er seinen güldenen Mahlring darein fallen, und kehrte stillschweigends nach dem vorigen Dorfe zurück. Die Leute waren seiner Rückkunft froh, weil sie ihr Vieh unterdessen einem schlechten Hirten hatten untergeben

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Brüder Grimm: Deutsche Sagen, Band 2. Nicolai, Berlin 1818, Seite 257. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutsche_Sagen_(Grimm)_V2_277.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)