Sechs Jahre hernach ließ der Graf die elf Knaben,
adlich geputzt und geziert in sein Schloß, da itzo
das Kloster Weingarten stehet, bringen, lud seine
Freundschaft zu Gast, und machte sich fröhlich. Wie
das Mahl schier vollendet war, hieß er aber die elf
Kinder, alle roth gekleidet, einführen; und alle waren
dem zwölften, den die Gräfin behalten hatte, an
Farbe, Gliedern, Gestalt und Größe so gleich: daß
man eigentlich sehen konnte, wie sie von einem Vater
gezeugt, und unter einer Mütter Herzen gelegen wären.
Unterdessen stand der Graf auf, und frug feierlich seine gesammte Freundschaft: was doch ein Weib, die so herrlicher Knaben elfe umbringen wollen, für einen Tod verschulde? Machtlos und ohnmächtig sank die Gräfin bei diesen Worten hin; denn das Herz sagte ihr, daß ihr Fleisch und Blut zugegen waren; als sie wieder zu sich gebracht worden, fiel sie dem Grafen mit Weinen zu Füßen, und flehte jämmerlich um Gnade. Da nun alle Freunde Bitten für sie einlegten, so verzieh der Graf ihrer Einfalt und kindlichen Unschuld, aus der sie das Verbrechen begangen hatte. Gottlob, daß die Kinder am Leben sind.
Zum ewigen Gedächtniß der wunderbaren Geschichte, begehrte und verordnete in seiner Freunde Gegenwart der Graf: daß seine Nachkommen sich fürder nicht mehr Grafen zu Altorf, sondern Welfen, und sein Stamm der Welfen Stamm heißen sollten. –
Brüder Grimm: Deutsche Sagen, Band 2. Nicolai, Berlin 1818, Seite 235. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutsche_Sagen_(Grimm)_V2_255.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)