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hatte, durch eine ausgebrochene Glasscheibe des vergitterten Fensters in die seinem Hause grad gegenüber liegende Rathskämmerei einzufliegen und ihm ein Stück Geld daraus zu hohlen. Das geschah jeden Abend und sie brachte ihm eine der goldnen oder silbernen Münzen, die gerade von der Stadt Einkünften auf dem Tische lagen, mit ihrem Schnabel getragen. Die andern Rathsbedienten gewahrten endlich der Verminderung des Schatzes, beschlossen dem Dieb aufzulauern und fanden bald, daß die Dohle nach Sonnenuntergang geflogen kam und ein Goldstück wegpickte. Sie zeichneten darauf einige Stücke und legten sie hin, die von der Dohle nach und nach gleichfalls abgeholt wurden. Nun saß der ganze Rath zusammen, trug die Sache vor und schloß dahin, falls man den Dieb herausbringen würde, so sollte er oben auf den Kranz des hohen Rathhausthurns gesetzt und verurtheilt werden, entweder oben zu verhungern oder bis auf den Erdboden herabzusteigen. Unterdessen wurde in des verdächtigen Rathsherrn Wohnung geschickt und nicht nur der fliegende Bote, sondern auch die gezeichneten Goldstücke gefunden. Der Missethäter bekannte sein Verbrechen, unterwarf sich willig dem Spruch, den man, angesehen sein hohes Alter, lindern wollte, welches er nicht zugab, sondern stieg vor aller Leute Augen mit Angst und Zittern auf den Kranz des Thurms. Beim Absteigen unterwärts kam er aber bald auf ein steinern Gelender, konnte weder vor noch hinter sich und mußte stehen bleiben. Zehn Tage und Nächte stand der alte, arme Greis da zur Schau, daß es einen erbarmte, ohne Speis und Trank, bis er endlich vor großem Hunger sein eigen Fleisch von den Händen und Armen abnagte und reu- und bußfertig durch solchen grausamen, unerhörten

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Brüder Grimm: Deutsche Sagen, Band 1. Nicolai, Berlin 1816, Seite 461. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutsche_Sagen_(Grimm)_V1_497.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)