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Am andern Morgen, als der König seine Tochter nicht fand, ließ er sie überall suchen und schickte Boten nach allen Gegenden aus, aber sie kehrten zurück, ohne eine Spur gefunden zu haben; und der treue Diener wollte sie nicht verrathen. Aber als es Mittagszeit war, kam der weiße Hirsch auf Hornberg zu ihm und als er ihm Brot reichen wollte, neigte er seinen Kopf, damit er es ihm an das Geweih stecken mögte. Dann sprang er fort und brachte es der Notburga hinaus in die Wildniß und so kam er jeden Tag und erhielt Speise für sie; viele sahen es, aber niemand wußte, was es zu bedeuten hatte, als der treue Diener.

Endlich bemerkte der König den weißen Hirsch und zwang dem Alten das Geheimniß ab. Andern Tags zur Mittagszeit setzte er sich zu Pferd und als der Hirsch wieder die Speise zu holen kam und damit forteilte, jagte er ihm nach, durch den Fluß hindurch, bis zu einer Felsenhöhle, in welche das Thier sprang. Der König stieg ab und ging hinein, da fand er seine Tochter, mit gefaltenen Händen vor einem Kreuz kniend, und neben ihr ruhte der weiße Hirsch. Da sie vom Sonnenlicht nicht mehr berührt worden, war sie todtenblaß, also daß er vor ihrer Gestalt erschrack. Dann sprach er: „kehre mit nach Hornberg zurück;“ aber sie antwortete: „ich habe Gott mein Leben gelobt und suche nichts mehr bei den Menschen.“ Was er noch sonst sprach, sie war nicht zu bewegen und gab keine andere Antwort. Da gerieth er in Zorn und wollte sie wegziehen, aber sie hielt sich am Kreuz, und als er Gewalt

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Brüder Grimm: Deutsche Sagen, Band 1. Nicolai, Berlin 1816, Seite 452. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutsche_Sagen_(Grimm)_V1_488.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)