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317.
Die Heidenjungfrau zu Glatz.
Belurius glätzische Chronik. Lpzg. 1625. 4. S. 124–128. vgl. S. 86.


Alte und junge Leute zu Glatz erzählten: in der heidnischen Zeit habe da eine gottlose, zauberhafte Jungfrau das Land beherrscht, die mit ihrem Ranzenbogen vom Schloß herab bis zur großen eisersdorfer Linde geschossen, als sie mit ihrem Bruder gewettet: wer den Pfeil am weitesten schießen könnte. Des Bruders Pfeil reichte kaum auf den halben Weg, und die Jungfrau gewann. An dieser Linde stehet die Grenze, und sie soll so alt seyn, wie der Heidenthurm zu Glatz und wenn sie gleich einmal oder das ander verdorret, so ist sie doch immer ausgewachsen und stehet noch. Auf der Linde saß einmal die Wahrsagerin und weissagte von der Stadt viel zukünftige Dinge: der Türk werde bis nach Glatz dringen, aber wenn er über die steinerne Brücke auf den Ring einziehe, eine schwere Niederlage erleiden durch die vom Schloß herab auf ihn ziehenden Christen; solches werde aber nicht geschehen, bevor ein Haufen Kraniche durch die Brotbänke geflogen. – Zum Zeichen, daß die Jungfrau ihren Bruder mit dem Bogen überschossen, setzte man auf der Meile hinter dem Graben zween spitzige Steine. Weil sie aber mit ihrem eigenen Bruder unerlaubte Liebe gepflogen, war sie vom Volk verabscheut und es wurde ihr nach dem Leben getrachtet, allein sie wußte

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Brüder Grimm: Deutsche Sagen, Band 1. Nicolai, Berlin 1816, Seite 409. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutsche_Sagen_(Grimm)_V1_445.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)