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308.
Der ewige Jäger.
Nach einem Meistergesang Michael Beham’s, MS. Vatic. 312. Bl. 165. mitgetheilt in der Sammlung für altd. Lit. u. Kunst von Hagen u. a. S. 43–45.


Graf Eberhard von Würtenberg ritt eines Tages allein in den grünen Wald aus und wollte zu seiner Kurzweil jagen. Plötzlich hörte er ein starkes Brausen und Lärmen, wie wenn ein Weidmann vorüber käme; erschrack heftig und fragte, nachdem er vom Roß gestanden und auf eines Baumes Tolde getreten war, den Geist: ob er ihm schaden wolle? „Nein, sprach die Gestalt, ich bin gleich dir ein Mensch und stehe vor dir ganz allein, war vordem ein Herr. An dem Jagen hatte ich aber solche Lust, daß ich Gott anflehte, er möge mich jagen lassen, bis zu dem jüngsten Tag. Mein Wunsch wurde leider erhört und schon fünfthalb hundert Jahre jage ich an einem und demselben Hirsch. Mein Geschlecht und mein Adel sind aber noch niemanden offenbart worden.“ Graf Eberhard sagte: „zeig mir dein Angesicht, ob ich dich etwan erkennen möge?“ Da entblößte sich der Geist, sein Antlitz war kaum faustgroß, verdorrt, wie eine Rübe und gerunzelt, als ein Schwamm. Darauf ritt er dem Hirsch nach und verschwand, der Graf kehrte heim in sein Land zurück.


Empfohlene Zitierweise:
Brüder Grimm: Deutsche Sagen, Band 1. Nicolai, Berlin 1816, Seite 397. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutsche_Sagen_(Grimm)_V1_433.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)