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der Preußen aufgefangen. Ich denke doch, daß wir diesmal das verdammte Nest, dieses Bourget, wieder nehmen werden!“

Eine wahre Explosion von Bravos und Gelächter war die Antwort. Man tanzte, man sang, man schliff die Haubajonnette und die Kinder machten sich diesen Tumult zu Nutze und entschlüpften unbemerkt.

Als sie die Tranchée hinter sich hatten, lag vor ihnen eine Ebene und im Hintergrund derselben eine lange, weiße Mauer, die ganz von Schießscharten durchlöchert war. Nach dieser Mauer nahmen sie die Richtung, machten aber bei jedem Schritte Halt und bückten sich, als hätten sie Kartoffeln aufzuheben; sie mussten doch den Schein wahren.

„Kehr’ um … Nicht dorthin!“ sagte der kleine Stenne unaufhörlich.

Der Andere zuckte die Achseln und näherte sich immer mehr der weißen Mauer. Plötzlich hörten sie das „Triktrak“ eines Gewehrs, welches schußfertig gemacht wird.

„Leg’ dich!“ flüsterte hastig der Lange und warf sich flach auf den Boden.

Und als er lag, stieß er einen Pfiff aus. Ueber den Schnee her kam ein Pfiff als Antwort. Kriechend setzten sie ihren Weg fort … Vor der Mauer, mit dem Erdboden fast gleich, erschien ein flachsblonder Schnurrbart unter einer schmierigen blauen Tellermütze. Der Lange sprang hinab in die Tranchée, neben den Preußen.

„’s ist mein Bruder!“ sagte er und wies auf seinen Gefährten. Er war so klein, dieser „Bruder“ Stenne, daß der Preuße, als er seiner ansichtig ward, zu lachen begann; er sah sich auch genöthigt, ihn mit dem Arme zu umfassen, um ihn bis zur Geschützscharte emporzuheben.

Jenseits der Mauer zeigten sich große Erdaufschüttungen, gefällte Bäume, schwarze Löcher im Schnee, und aus jedem Loche tauchte dieselbe schmierige Mütze, derselbe flachsblonde Schnurrbart auf und lachend ließen die Soldaten die Kinder vorüber.

In einer Ecke stand ein Gärtnerhaus, das durch Baumstämme in ein Bollwerk verwandelt war. Das Erdgeschoss war voller Soldaten, die Karte spielten und an einem hellen Feuer ihre Suppe kochten. Wie gut das nach Kohl und Speck roch! welcher Gegensatz zu dem Bivouac der Franctireurs! Oben waren die Offiziere. Man hörte sie Piano spielen und Champagnerflaschen entkorken. Als die kleinen Pariser eintraten, bewillkommnete sie ein freudiges „Hurra!“ Sie gaben ihre Zeitungen hin – dann schenkte man ihnen zu trinken ein und suchte sie zum Plaudern zu bringen. Alle diese Offiziere sahen hochfahrend und barsch aus, aber der Lange belustigte sie durch seinen Faubourgwitz und seinen reichen Vorrath an Gassenausdrücken. Sie lachten, sprachen seine Worte nach und wälzten sich so recht mit Behagen in dem pariser Kothe, den ihnen ihr Spion zutrug.

Der kleine Stenne hätte gern ebenfalls etwas gesagt, hätte gern den Beweis geliefert, daß er auch nicht auf den Kopf gefallen sei – aber er konnte nicht. Etwas genirte ihn. Ihm gegenüber saß, etwas abseits von den andern, ein Preuße, der älter und ernsthafter war als seine Kameraden und ruhig las oder sich vielmehr den Anschein gab, als lese er, denn seine Augen hafteten unverwandt auf dem kleinen Stenne. In diesem Blick lag etwas wie Zärtlichkeit, aber auch wie Vorwurf, als hätte dieser Kriegsmann daheim ein Kind im selben Alter wie Stenne und als hätte er zu sich selber gesagt:

„Ich würde lieber sterben, als erleben, daß mein Sohn ein solches Handwerk treibt!“

Von diesem Augenblick an hatte Stenne das Gefühl, als lege sich eine schwere Hand auf sein Herz und verhindre es am Weiterschlagen.

Um sich dieser Beängstigung zu entwinden, fing er an zu trinken. Bald drehte sich alles um ihn im Kreise. Er hörte nur noch undeutlich, wie sein Kamerad unter schallendem Gelächter seiner Zuhörer die Nationalgarde und ihre Art zu exerzieren verspottete, wie er einen Generalmarsch im Marais, einen nächtlichen Alarm auf den Wällen ironisirend schilderte. Endlich dämpfte der Lange die Stimme, die Offiziere traten näher an ihn heran und ihre Gesichter wurden mit einemmale ernst. Der Elende war im Begriff, ihnen den bevorstehenden Angriff der Franctireurs zu verrathen …

Da sprang Stenne, der mit einem Schlage nüchtern geworden war, wüthend auf und rief:

„Nicht das Langer … Ich will nicht!“

Aber der andere lachte nur und fuhr fort. Ehe er noch geendet hatte, waren alle Offiziere auf den Beinen. Einer zeigte den Kindern die Thür und herrschte ihnen zu:

„Und nun – packt euch!“

Und sie fingen an, sehr rasch und auf Deutsch unter einander zu sprechen. Der Große ging, stolz wie ein Doge, hinaus und ließ sein Geld klingeln. Stenne folgte ihm, mit gesenktem Kopf, und als er an dem Preußen vorüber kam, dessen Blick ihn so sehr genirt hatte, hörte er eine traurige Stimme die Worte sagen: „Nicht hübsch das … nicht hübsch!“

Und die Thränen schossen ihm heiß in die Augen.

Als sie erst wieder auf der Ebene waren, fingen die Knaben an zu laufen und waren rasch wieder im Bereich der französischen Linien. Ihre Säcke waren ganz gefüllt mit Kartoffeln, welche die Preußen ihnen gegeben hatten; so kamen sie ohne Hinderniß an der Tranchée der Franctireurs vorüber. Man bereitete dort alles auf den nächtlichen Angriff vor. Truppen kamen geräuschlos in ernstem Schweigen anmarschirt und stellten sich hinter den Mauern auf. Auch der alte Sergeant war da und wies mit glücklichem Gesicht seinen Leuten ihre Plätze an. Als die Kinder vorüberkamen, erkannte er sie und lächelte ihnen freundlich zu.

Ach! wie schneidend weh that dies gute Lächeln dem kleinen Stenne! einen Augenblick hatte er Luft, zu rufen:

„Geht nicht da hinunter … wir haben euch verrathen.“

Aber der andere hatte ihm gesagt: „Wenn du ein Wort sagst, so werden wir erschossen!“ und die Furcht verschloß ihm den Mund …

In la Courneuve traten sie in ein verlassenes Haus, um das Geld zu theilen. Wir würden nicht streng wahrheitsgemäß erzählen, wollten wir verschweigen, daß ehrlich geteilt ward, und daß der kleine Stenne, als er die schönen Thaler in seiner Blouse klingen hörte und als ihm der Gedanke an die seiner harrenden Galochepartien kam, anfing, sein Verbrechen als nicht gar so abscheulich anzusehen.

Als das Kind aber allein war, wie unglücklich begann es sich da zu fühlen! Als sie innerhalb der Thore waren, verließ ihn der Lange, und nun fingen seine Taschen an sehr schwer zu werden und die Hand, welche ihm das Herz zusammendrückte, preßte stärker als vorher. Paris kam ihm seltsam verändert vor. Die Vorübergehenden sahen ihn streng an, als wüßten sie, woher er komme. Durch das Rollen der Räder, durch die Wirbel der Trommler, welche den Kanal entlang übten, hörte er deutlich ein schreckliches, vorwurfsvolles Wort, das eine Wort „Spion!“ Endlich kam er heim und mit einem lebhaften Gefühl des Glücks darüber, daß sein Vater noch nicht zu Hause war, stieg er rasch hinauf in ihre Kammer, um unter seinem Kopfkissen die Thaler zu verstecken, die ihm so merkwürdig, so unheimlich schwer zu sein schienen.

Nie war der alte Stenne so freundlich, so vergnügt gewesen, als bei seiner Heimkehr an diesem Abend. Es waren gute Nachrichten aus der Provinz eingegangen: die Angelegenheiten des Landes standen günstiger. Während des Essens betrachtete der alte Soldat sein an der Mauer hängendes Gewehr und sagte mit seinem gutherzigen Lächeln zu seinem Knaben:

„Hei, mein Junge, wie würdest du diesen Preußen zu Leibe gehen, wenn du groß wärst!“

Gegen 8 Uhr vernahm man Kanonendonner.

„Das ist Aubervilliers … man schlägt sich bei Bourget“, sagte der Alte, der alle „seine“ Forts genau kannte. Der kleine Stenne erbleichte und ging, große Müdigkeit vorschützend, zu Bett, aber er schlief nicht. Die Kanonen donnerten fort. Er stellte sich vor, wie die Franctireurs mitten in der Nacht sich auf die Preußen stürzten, in dem Wahne, sie zu überfallen, und wie sie selber in einen Hinterhalt fielen. Er erinnerte sich an den Sergeanten, der ihm zugelächelt hatte, er sah ihn unten bei Bourget ausgestreckt im Schnee liegen und wie viele andere mit ihm! … Der Preis für all dies Blut war unter seinem Kopfkissen verborgen, und der das gethan, war er, der Sohn des alten Stenne, der Sohn eines Soldaten! … Die Thränen wollten ihn ersticken. Im anstoßenden Zimmer hörte er seinen Vater auf und ab gehen und das Fenster öffnen. Unten auf dem Platze wirbelte der Generalmarsch, ein Bataillon der Mobilgarde formirte sich zum Abmarsch. Es war kein Zweifel, man schlug eine wirkliche Schlacht. Der Unglückliche konnte sein Schluchzen nicht länger unterdrücken.

„Was hast du denn?“ fragte der Alte, ins Zimmer tretend.

Das Kind hielt nicht länger an sich, sprang aus dem Bett und warf sich seinem Vater zu Füßen. Infolge dieser heftigen

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Rudolf Lavant: Der kleine Spion. Goldhausen, Leipzig 1877, Seite 10. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_kleine_Spion_10.jpg&oldid=- (Version vom 17.1.2018)