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Theodor Lessing: Der jüdische Selbsthass

Philosophie veröffentlicht und es Rée gewidmet hatte. Rée urteilt in diesem Briefe nicht anders wie alle Freunde, alle Angehörigen Nietzsches damals geurteilt haben. Denn die Komödie des Ruhmes setzte ja erst ein, als die Geschichte vergessen und der Mythos geboren ward oder, besser gesagt, als der Mythos Geschichte geworden war. 1890 - möge das niemals vergessen werden - wurde Friedrich Nietzsche in der Klinik des Professors Binswanger in Jena (Assistenzarzt Theodor Ziehen) den Studenten als Demonstrationsexemplar der Paralyse vorgeführt. 1890 konnte noch der Rembrandtdeutsche Julius Langbehn davon träumen, Nietzsche zu sich zu nehmen und zu betreuen. Zwischen 1890 und 1900 haben sich sämtliche Freunde Nietzsches - Overbeck, Deußen, Rohde, Burckhardt - allesamt in die uneinnehmbare Festung „Wissenschaft“ zurückgezogen. Noch war die Formel immer die alte: Gewaltiger Stilist, überlegener Dichter, geniale Feder, aber nicht zurechnungsfähig für die Wissenschaft. Einer, der zu europäischer Sensation Gedanken aufbauschte, die von andern empfangen, von andern minder romantisch und mit strengerer Verantwortung zu Ende gedacht waren. Noch hatte der Umstrittene Freunde nötig, und Freunde hat erst, wer keinen mehr nötig hat. Paul Rée urteilte gar nicht anders als auch Nietzsches Nächste geurteilt haben. Schopenhauer (so lautete eines der bittersten Worte) war ein Scharlatan, aber schrieb wie ein Philosoph; Nietzsche war ein Philosoph, aber schrieb wie ein Scharlatan.

Aus den Gedanken, die sie gemeinsam durchblutet hatten, wuchsen in Nietzsches Einsamkeit die großen

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Theodor Lessing: Der jüdische Selbsthass. Jüdischer Verlag, Berlin 1930, Seite 78. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_j%C3%BCdische_Selbstha%C3%9F.pdf/78&oldid=- (Version vom 5.7.2016)