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Theodor Lessing: Der jüdische Selbsthass

mehr, Menschen seiner Gesellschaftsschicht um sich zu sehen, keinen Wunsch und Ehrgeiz mehr, auf dem Kulturmarkte mitzuwirken und mitzugelten. Auch von seinen früheren Schriften wollte er nichts mehr wissen. Dem kurzen Manuskript, das in seinem Nachlaß vorgefunden wurde, hat er einen einzigen Satz als Vorrede vorangestellt: „Meine früheren Schriften sind unreife Jugendwerke.“ -

Wenn ein Mensch in die Einsamkeit geht, dann bleiben bei ihm die Genien seines Volks, seine Bücher, seine Sprache, die Bilder und Plastiken seiner Künstler, die Musik seiner Tonschöpfer, das Lied seiner Sänger, die großen Männer und Frauen seiner Geschichte und alle seine geliebten Toten.

Aber zum Juden kommen nur Genien, die seine Seele nicht kennt, und kämen seine Urväter, verstünde er sie? Da flüchtet der Vereinzelte wohl in den falschen Hochmut eines Rekords und in die Wettläufe des sozialen Geltungswillens. Gelingt die Flucht, dann frißt ihn die Gesellschaft, gelingt sie nicht, dann frißt er sich selbst.

Paul Rée starb an sich selbst.

Nur eine frohe Gemeinschaft kann dem großen Menschen Heimat und Nestwärme geben, weil sie ihn liebt und ihm vertraut und gern ihn emporträgt als einen schönen Ausdruck ihrer aller Gemeinschaftsseele.

Wo aber kein Volk ist, sondern nur eine anarchische Gesellschaft aus unverfestigten Einzelnen mit gemeinsamer antiquarischer Erinnerung und gemeinsamen sozialen Zwecken, da wird niemals der größere und tiefere Mensch froh empfangen. Er wird beneidet. Denn jeder

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Theodor Lessing: Der jüdische Selbsthass. Jüdischer Verlag, Berlin 1930, Seite 75. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_j%C3%BCdische_Selbstha%C3%9F.pdf/75&oldid=- (Version vom 5.7.2016)