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Theodor Lessing: Der jüdische Selbsthass

zu vernichten. Während Nietzsches gewaltige Werke erschienen, in dem Jahrzehnt von 1880 bis 1890, studierte Rée unaufhörlich, und je mehr er lernte, um so schweigsamer wurde er. In seinem 37. Lebensjahre entschloß er sich, von der Naturwissenschaft zur praktischen Medizin überzugehen. Im Jahre 1890 hatte er endlich in Berlin und München alle drei medizinischen Examina bestanden. In diesem Jahre übernahm sein älterer Bruder, den er sehr liebte, das vom Vater ererbte große Schloßgut Stibbe in Westpreußen. Rée entschloß sich, als Arzt nach Stibbe zu gehen. Er hat zehn Jahre lang in der westpreußischen Landeinsamkeit als Arzt gewirkt, von den Bauern als ein Heiliger verehrt. Er führte ein mönchisch strenges Leben, äußerst bescheiden in allen Bedürfnissen und rastlos hilfsbereit und gütig. Er soll in diesem ganzen Jahrzehnt den Umkreis des Gutsbezirks nicht verlassen haben, und Nacht für Nacht brannte im Herrenhaus seine Arbeitslampe. Im Jahre 1900 aber wurde Stibbe verkauft, und der Bruder zog nach Berlin. Da Rée sich nicht entschließen konnte, die geliebte Einsamkeit aufzugeben, so beschloß er, sich im Engadin, das er sehr liebte, dauernd niederzulassen. Er wählte dazu Celerina, ein Bergdorf nahe Sankt Moritz. Um die selbe Zeit, wo Rée ins Engadin zog, im August 1900, erlosch endlich Friedrich Nietzsches Nacht des Irrsinns in die Nacht des Todes.

Paul Rée lebte streng und hart in der weltfernen Landschaft Zarathustras. Er verschenkte sich an die Bergbauern, und die Bergbauern vergötterten ihn. Aber er muß sich unter ihnen wie ein Fremdling aus einer anderen Welt gefühlt haben. Er hatte kein Bedürfnis

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Theodor Lessing: Der jüdische Selbsthass. Jüdischer Verlag, Berlin 1930, Seite 74. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_j%C3%BCdische_Selbstha%C3%9F.pdf/74&oldid=- (Version vom 5.7.2016)