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Theodor Lessing: Der jüdische Selbsthass

bis zur Umwertung aller Werte fortgeschritten wäre, wenn ihm nie Rée begegnet wäre. Der Kern von Rées Lehre, der ihn bewahrte vor dem Absturz auf das unfruchtbare Feld bloßer Seelenchemie, war die Überzeugung vom Setzungscharakter aller Schätzungen und der Zweifel an ein Naturrecht und ein von Natur Sittliches.

Dies nun war der eigentliche Keim, der auf Nietzsche weitererbte. An diesem Endchen Seil hielt Nietzsche sich künftig, und an ihm erklomm er den Gletscher, den Rée zwar sah, aber nie überwand.

Sie hatten in ihren guten Tagen von gemeinsamen Flügen geträumt. Sie wollten wieder Studenten werden, wieder von vorn beginnen, zehn Jahre lang in München oder Berlin Naturforscher sein. Die wachsende Krankheit Nietzsches machte all solchen Plänen den Garaus. Sie trieb ihn bald in Verbannung und Einsamkeit. Rée, der scheinbar Glücklichere, machte die Studienpläne zu Wirklichkeit.

Es scheint, daß bald nach der Trennung von Nietzsche, etwa um das Jahr 1880, Rée den Versuch gemacht hat, sich in Berlin oder Jena für Philosophie zu habilitieren. Die Einblicke, die er bei dieser Gelegenheit in den akademischen Betrieb der Philosophie gewann, scheinen ihm dieses zweifelhafte Studium völlig verleidet zu haben. Er lebte in verschiedenen kleinen Universitäten, fortan mit naturwissenschaftlichen Studien beschäftigt. In den Jahren 1875 bis 1885 entfaltete er eine bescheidene literarische Produktivität. Nach dieser Zeit hat er nichts mehr veröffentlicht, hat sich vielmehr bemüht, alles, was er je hatte drucken lassen, aufzukaufen und

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Theodor Lessing: Der jüdische Selbsthass. Jüdischer Verlag, Berlin 1930, Seite 73. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_j%C3%BCdische_Selbstha%C3%9F.pdf/73&oldid=- (Version vom 5.7.2016)