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Theodor Lessing: Der jüdische Selbsthaß

bereit, Jünger und Apostel Nietzsches zu werden. Nietzsche war von den beiden der zartere, aber aus kühlerem nordischen Stoff. Rée, warm und weich, war die primitivere, heißere Natur. Der eine hatte eine mädchenhaft sensitive, aber kalte, sehr ichbezügliche Seele, der andere eine mütterlich hingegebene, allzu „altruistische“. Reizbarer mithin war Rée, Nietzsche sowohl empfindsamer wie folgerichtiger. Herb und verschlossen beide.

Für einen flüchtigen Beobachter schien Nietzsche der nehmende und empfangende Teil zu sein; er nannte den männlicheren Rée seinen Führer. Aber diesem klang das wie Hohn, denn er fühlte genau (wenn er späterhin auch das nicht wahr haben wollte), daß der frauenhafte Freund doch dauerhafter und stärker sei. Er wußte im voraus, wie es denn auch später gekommen ist: „Die Saat wird herrlich aufgehn, der Säemann bald vergessen werden.“

Zwei ungleiche und doch verwandte Naturen wollten zusammenklingen. Aber ein finsterer Dämon stand zwischen ihnen und türmte den Damm, der sie schließlich trennte.

Immer schwang um Rée ein unausgesprochenes Geheimnis. Irgendein Gefühl war in ihm eingeklemmt und nicht auflösbar, weder durch die Mittel der Weltverachtung noch durch lächelnden Humor.

Er war Jude. Aber zweifelhaft ist, ob Friedrich Nietzsche das gewußt hat. Denn Rée gehörte zu der wunderlichen in jenen vorzionistischen Jahren sehr verbreiteten Art junger Juden, die, völlig abgelöst von Überlieferung und Ritus, das Bewußtsein ihrer jüdischen Herkunft wie ein heimliches Gebrechen hüten, als sei das ein Zuchthäuslerzeichen

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Theodor Lessing: Der jüdische Selbsthaß. Jüdischer Verlag, Berlin 1930, Seite 61. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_j%C3%BCdische_Selbstha%C3%9F.pdf/61&oldid=- (Version vom 5.7.2016)