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Theodor Lessing: Der jüdische Selbsthaß

einander“, so schrieb Nietzsche an einen andern Freund, „auf gleicher Stufe vor; der Genuß unsrer Gespräche war grenzenlos; der Vorteil gewiß sehr groß auf beiden Seiten.“ Rée arbeitete zu jener Zeit an seinem Werk über den Ursprung der moralischen Empfindungen. Nietzsche war noch Romantiker im Banne Arthur Schopenhauers und Richard Wagners, „ein verehrend gläubiges Tier“, wie er sich dem Freunde gegenüber nannte. Aus Rées Hand empfing er das diamantscharfe Skalpell, das er bald besser als Rée selber zu handhaben lernte, das haarspaltende Messer der Psychologie. Rée aber verspürte in dem noch ein wenig unflüggen jungen Gräzisten die Schwungkraft der Phantasie, den schöpferischen Überschwang, den er selbst nicht hatte und davor seine überlegene Scharfsichtigkeit ihm nur vernüchternd, ja in den stillsten Stunden arm und verbrecherisch erschien. Aber da sie beide keusche und herbe Naturen waren, so redeten sie monatelang umeinander herum, und als sie schließlich einander zu ergänzen begannen, da zuckte bereits jener tragische Blitz, der ihrem Bunde jäh das Ende brachte.

Das war Sternenverhängnis. Denn wäre der Brückenschlag gelungen, so wäre dem einen der Untergang in der Nacht des Wahnsinns, dem andern der freie Tod erlassen worden

Damals aber in dem kurzen Jahr, da dieses Band dauerte, glaubte jeder im andern seinen Traum von Freundschaft erfüllt zu sehn, einem Freunde, der zugleich Führer und Vorbild ist. Jeder liebte den andern mehr als sich selbst. Nietzsche nannte diese kurze Periode „die Zeit meines Rée-alismus“, und Rée war damals

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Theodor Lessing: Der jüdische Selbsthaß. Jüdischer Verlag, Berlin 1930, Seite 60. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_j%C3%BCdische_Selbstha%C3%9F.pdf/60&oldid=- (Version vom 5.7.2016)