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Theodor Lessing: Der jüdische Selbsthaß

der Zeit. Er besuchte, ein rastloser Wanderer, Landschaften und Berge, Städte, Menschen, Büchereien, Museen und Kirchen; er lauschte, blickte und schwieg (denn er war gleich Nietzsche ein auf gute Lebensform haltender Geist), und fand Menschen und Dinge immer ein wenig komisch, ein wenig tragisch, ein wenig verächtlich. Seine Lebensart war die eines vornehmen Fremden, der mit liebenden Augen durch die Welt fährt, freudig aufnimmt und freudig aussäet, aber nirgends sich verwurzelt und nie ganz mit dazu gehört.

„Ich habe eine neue Methode“, so sagte er. - „Sämtliche Inhalte des Lebens, vor allem aber die Sitten und Ideale der Menschen beobachte ich auf ihre geheimen Triebfedern und Hintergründe. Es steht hinter allen Bereichen des menschlichen Geistes zuletzt doch nur unsre arme Menschlichkeit, und wenn ein Satz als wahr gilt, wenn eine gute Tat geschieht oder wenn ein Bild als schön einleuchtet, so brauchen doch darum die unbewußten Vorgänge, in denen das Wahre, Gute und Schöne gewurzelt ist, nicht auch selber wahr, gut oder schön zu sein.“

Paul Rée lebte jene Philosophie, die späterhin Friedrich Nietzsche die „Philosophie des Vormittags“ oder die „Fröhliche Wissenschaft“ genannt und in seinen Büchern „Der Wanderer und sein Schatten“, „Jenseits von Gut und Böse“ und „Menschliches - Allzumenschliches“ geschildert hat. Denn der um fünf Jahre jüngere, damals dreißigjährige Nietzsche wurde zunächst zum Schüler Paul Rées.

Die erste Begegnung zwischen den beiden Philosophen erregte in beider Seelen frohes Erstaunen. „Wir fanden

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Theodor Lessing: Der jüdische Selbsthaß. Jüdischer Verlag, Berlin 1930, Seite 59. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_j%C3%BCdische_Selbstha%C3%9F.pdf/59&oldid=- (Version vom 5.7.2016)