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Brise war inzwischen einer völligen Windstille gewichen; die Sonne brannte mit unbarmherziger Gewalt hernieder, als wollte sie uns auf unsern Duchten bei lebendigem Leibe rösten. Wir hatten eine lange Fahrt vor uns, denn obgleich das Schiff nur zwei Seemeilen vom Lande entfernt lag, so mußten wir, ehe wir in den Fluß hineingelangen konnten, erst noch an einer in nordöstlicher Richtung liegenden, sechs Seemeilen entfernten Landzunge vorbeikommen, die den Namen Shark Point führte, wie Mr. Austin mir sagte. Zum Glück hatte die Flut eingesetzt, ehe wir uns auf den Weg machten, und so war uns die Strömung günstig.

Nach langem und mühseligem Rojen[ws 1] hatten wir endlich Shark Point hinter uns; weit dehnte sich der gewaltige Strom aus, der hier mindestens sechs Seemeilen breit war. Wir richteten unser Augenmerk zunächst auf die vielen Creeks[* 1], die sich auf unsrer linken Seite in den Kongo ergossen und in welchen allerlei Fahrzeuge leicht Unterschlupf finden konnten. Wir untersuchten einige von ihnen; sie waren von nur geringer Tiefe und ihre Ufer waren aus graubraunem, übelriechendem Schlick gebildet, nur ein wenig dicker als Erbsensuppe. An ein Anbordnehmen von Sklaven war in diesen Creeks nicht zu denken.

Ein paar Seemeilen weiter aufwärts kamen wir an die Mündung eines größeren Creeks, der etwa eine halbe Seemeile breit war. Wir rojten hinein. Die Ufer waren dicht mit Mangroven bestanden, Sumpfbäumen, deren Wipfel sich ungefähr zehn Meter über den Boden erhoben. Die Stämme dieser Bäume reichten jedoch nicht bis auf den Boden herab, sondern ruhten auf knotigen Wurzeln, die in hohen Bogen aus dem Erdreich emporwuchsen. Diese Wurzeln zerteilten sich nach allen Richtungen, so daß man die Bäume mit vielfüßigen Geschöpfen hätte vergleichen können, die mit den Wurzeln oder Füßen ihrer Nachbarn ein wirres Durcheinander bildeten. Das Ganze war von

  1. Creek, engl., flußähnliches Gewässer ohne Strom, auch kleine schmale Bucht.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Seemannssprachlich für Rudern.
Empfohlene Zitierweise:
Friedrich Meister: Der Vampyr. Verlag Abel und Müller, Leipzig 1911, Seite 16. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_Vampyr.pdf/18&oldid=- (Version vom 31.7.2018)