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Selbstzeugnisse von Hans Thoma
(Aus „Im Herbste des Lebens gesammelte Erinnerungsblätter“. München, Süddeutsche Monatshefte.)

Meine älteste Erinnerung ist, daß ich in einer Ecke unserer Schwarzwälderstube saß mit einer Schiefertafel und mit einem Griffel; es war noch vor der Zeit, da die Buben Hosen tragen dürfen. Ich machte Striche darauf durcheinander und freute mich daran, daß so etwas in meiner Hand lag, zu machen. Ich lief zur Mutter und zeigte es ihr; die Immergute störte meine Freude nicht, sie sah sich die Sache genau an, machte wohl noch ein paar Striche dazu oder davon und erklärte mir, das ist ein Haus, das ein Baum, ein Gartenzaun, der Kribskrabs ist der Gockel, der gerade kräht usw. Sie erzählte wohl auch noch eine Geschichte, was alles in dem Hause vorgehe, usf. So lief ich jedesmal mit der Tafel zur Muter, und sie mußte mir sagen, was ich gemacht habe. Bald kam auch Wille in mein Gekritzel; ich fügte die Striche zusammen, es wurde etwas daraus, was die Mutter deutlich als ein Schwein erkannte; auch ich sah es, und so war das Schwein meine erste künstlerische Errungenschaft. Bald kam auch der Unterschied zwischen Schwein und Roß zustande, ein großer Fortschritt! Freilich kam der neckischkritische Nachbar und erklärte, das sei kein Roß, das sei nur ein Esel, es habe zu lange Ohren, – das war die erste böse Kritik, die mich tief gekränkt hat. Es ist halt ein gewaltiger Unterschied zwischen liebend erkennenden Mutteraugen und kritischen Nachbarsaugen. – In der Zeit schnitt ich auch aus zusammengelegtem Papier Ornamente aus und freute mich an der Symmetrie, die in vielfacher Art herauskam. Ich saß oft stundenlang damit beschäftigt in einer stillen Ecke. Ein menschenfreundlicher Hausierer kam einmal und war ganz erschrocken, als er das kleine Kind mit der spitzigen Schere sah; er schimpfte und ließ nicht nach, bis man mir die Schere wegnahm; das war hart für mich, und ich heulte. –

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Joseph August Beringer (Hrsg.): Der Malerpoet. Delphin-Verlag München, München 1917, Seite 11. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_Malerpoet.pdf/24&oldid=- (Version vom 31.7.2018)