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Eine eigenartige Tragik des Lebens liegt darin, dass nicht nur Freundschaften, sondern auch Gegnerschaften zu einem Stück unseres Lebens werden, dass man sich alledem anpassen und angleichen muss, was man verachtet und überwinden will; dass auch unsre Feinde untrennbar in unser Leben eingehn dürfen, und jegliche Macht nur besiegt und widerlegt werden kann, indem sie mit ihren eigenen Waffen bekämpft wird. Wie man nach altem Volkswort einem Schuften anderthalbe entgegensetzen muss, so kann man niemandem und nichts mit Aussicht auf Erfolg entgegentreten, wenn man nicht sein Lebensniveau begreifen und mitmachen und die verachteten oder unrechtmässigen Kampfmittel selber verwenden will. Man kann nicht Verlogene mit Wahrheit, nicht Unmündige mit Lebenserfahrung, nicht Verliebte mit Erkenntnistheorie „widerlegen”. Wer also gegen den Lärm kämpft, der muss Lärm schlagen. Wer in dem allgemeinen Geschreie und Getöse gehört will werden, der muss es noch zu überschreien und zu überlärmen suchen, auch dann, wenn er nichts anderes zu lehren hat, als dass Lärmen und Schreien gemein und unsittlich sei. Dies mag mich zu entschuldigen versuchen gegenüber denjenigen, welche zweifellos finden werden, dass dies Buch zu laut und tumultuös gehalten ist. Ich habe es unter Hemmungen geschrieben. Ich schliesse es ohne Hoffnung, dass es viel nützen wird. Denn ich bin gewiss, dass der Lärmteufel, der mein Leben so oft zur Tortur gemacht hat, mir bis zum Tode treu bleiben wird, treuer sicherlich und zuverlässiger als die sogenannten „Nächsten” gewesen sind. Wenn der Kampf zu Ende gehn und ich im Fieberschweiss liegen werde, wo vielleicht noch einmal fester Schlaf frische Kraft zuführen und mich herausreissen könnte, dann wird zweifellos der Hund des Nachbarn die Nacht durchheulen, dann werden, ich weiss es gewiss, Meyers gerade das unaufschiebbare Reinemachen haben und bei Kanzleirats die elektrischen Läutewerke repariert werden müssen. Oder, es wird Festtag sein, wo „die eisernen Hunde der Luft” ihre mächtigen Zungen rühren. Meine Nachbarin wird Sonaten üben. Und der Bäckerjunge und die Gemüsefrau werden just vor meiner Kammertüre sich begegnen und einen notwendigen Austausch ihrer Seelen beginnen.

Kurz, ich weiss nicht, was sein wird, noch wie es sein wird. Aber Lärm wird sicher dabei sein. Ich werde mich nicht mehr wehren, sondern nach der Wand kehren, und auch testamentarisch keine andere Bitte mehr hinterlassen als die, dass an meinem Grabe nicht etwa noch ein Böller abgeschossen wird.

Empfohlene Zitierweise:
Theodor Lessing: Der Lärm. J. F. Bergmann, Wiesbaden 1908, Seite 91. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_L%C3%A4rm.pdf/94&oldid=- (Version vom 31.7.2018)