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Dies erweist z. B. eine (Jurist. Wochenschrift 1904, S. 143 abgedruckte) Letztentscheidung des Reichsgerichts in einem vor dem Landgericht Colmar in zweiter Instanz geführten Prozesse. – Eine Hausbesitzerin führt Klage gegen einen benachbarten Bierbrauer, der auf seinem Grundstück eine Eismaschine aufstellt. Sie weist nach, dass sie durch den Lärm dieser Maschine nervenkrank geworden sei, schliesslich aber gezwungen wurde, ihr für sie entwertetes Haus zu verkaufen. Sie klagt auf Entfernung der Tag und Nacht arbeitenden Maschine oder aber auf Schadenersatz. Die Klage wird in der Berufungsinstanz abgelehnt, die Revision zurückgewiesen. In der Begründung berufen sich die Gerichte, einschliesslich Reichsgericht, auf den im Entwurf zu B.G.B. Bd. 3, S. 267 ausgesprochenen Grundsatz, dass „das Mass des Erlaubten nicht von wechselnden persönlichen Verhältnissen abhängig gemacht werden dürfe.” Eine „nervenkranke Dame” könne daher nicht für die Anwendung des § 906/907 kompetent werden. – Dieser „Grundsatz” ist nun aber nichts als eine dehnbare Phrase. Die Zurückweisung der „nervenkranken Dame” als Klägerin ist schliesslich geradezu eine rechtliche Verunrechtung. Denn wäre die Frau nicht nervenkrank geworden, so hätte sie ja den Schutz des Gesetzbuches gar nicht nötig. Man definiert hier eben einfach den Menschen als „normal”, der den gegebenen Lärm erträgt; weist aber den, der ihn nicht erträgt ab, mit der Motivation, dass er anormal sei oder annormal geworden sei… Ganz der nämliche Rechtskonflikt kam auch bei einem Rechtsfalle zum Austrag, der ebenfalls durch alle Instanzen bis zum Reichsgericht durchgefochten und zuletzt mit der Berufung auf den „normalen Durchschnittsmenschen” totgeschlagen wurde[1]. In diesem Fall wurde ebenfalls gegen das Geräusch einer Maschine geklagt. Ein alter Arzt, der als Sachverständiger zugezogen wurde, sagt aus, dass nach seiner ein Menschenalter umfassenden Erfahrung mindestens ein Viertel der erwachsenen Bevölkerung in der Stadt Dortmund als „nervös” und nicht „normal” zu bezeichnen sei, insofern sie bei dem in Rede stehenden Maschinengeräusch nicht würde schlafen können. Die Klage wird dennoch abgewiesen. Das Reichsgericht entscheidet, dass Bedürfnisse nervöser Personen nicht zu berücksichtigen seien. Da sich nun aber der Kläger dagegen sträubt als „nervöse Person” zu gelten, so beruft sich das Gericht schliesslich auf die Tatsache, dass er bei offenem Fenster zu schlafen gewohnt sei, was ebenfalls als etwas nicht Normales zu bezeichnen sei. – Eine herrliche Rechtsentscheidung! Einen Rechtsanspruch auf den § 906 haben somit also nur „normale Durchschnittsmenschen, die hinter geschlossenen Fenstern schlafen!” Das deutsche Reichsgericht hat bei dieser unsterblichen Entscheidung (vom


  1. Juristische Wochenschrift XXXIII, S. 384. Ziff. 6.
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Theodor Lessing: Der Lärm. J. F. Bergmann, Wiesbaden 1908, Seite 78. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_L%C3%A4rm.pdf/81&oldid=- (Version vom 31.7.2018)