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und Zufälligkeit verborgen liegt. Disziplinlosigkeit, Primitivität und rüpelhafte Unkultur des durchschnittlichen Mannes. Es soll alles nach Laune gehen. Ihr möchtet euch eben gehen lassen. Ihr habt weder echten Patriotismus noch echten Bürgerstolz; ihr habt nicht ein einziges Ideal, für das ihr im Tageskampf euch das geringste Opfer auferlegtet. Wofür würdet ihr denn wohl das Schaffot besteigen? „Behaglichkeit” ist eure einzige Göttin. Ihr seid nicht eigenartig, nicht „individuell” genug, um nicht fürchten zu müssen, dass mit der Willkürlichkeit der Lebensformen auch die Einkehr und Abgeschlossenheit eures Wesens dahinfällt. Ihr besitzt euch gar nicht selber; sondern ihr müsst euch erst abgrenzen und vermauern, um zu dem Gefühl zu gelangen, eine „Persönlichkeit” zu sein. „Individualismus” aber nennt ihr die Erlaubnis, nach Herzenslust spektakeln zu dürfen. Jede gesellschaftliche Schutzmassregel gegen das Gegacker jener lauten Narren, jener grossen Schreier, jener frechen Schwätzer, die ihr eure „starken Persönlichkeiten” nennt, erscheint euch als „staatliches Nivellement”, als Eingriff der Bureaukratie in die heiligen Rechte des „Individualismus”. Ihr schwatzt gar viel von Liberalismus und Freiheit; aber gibt man euch die Freiheit sittlich zu sein, dann ersehnt ihr nur die Freiheit von aller Sitte. Zufall und Chaos beherrschen euer Leben. Zufall und Chaos gebieten, welche Art Menschen in den Mauerlöchern, unter den roten Dächern der Steinverliesse zusammengewürfelt werden, sich lieben, hassen, Kinder zeugen und zu Tode quälen. Zufall und Chaos allein schweben um die Gestalten eurer Hausmütter und Hausfrauen. Alles, was in der praktischen Wirtschaftsarbeit am wichtigsten ist, Ernährung und Küche, Hausreinigung, Hygiene, Erziehung, Kinderpflege wird ohne inneren Beruf und Begabung, ohne Selbstdisziplin, Einsicht und Ehrfurcht, ohne Arbeitsteilung und spezialistische Vorbildung betrieben; die Frau kocht, wäscht, reinigt, lärmt und erzieht kraft ihrer „Vorbestimmung” und ihres Geschlechtes, heute genau so wie es ihre Grossmütter zur Zeit der Naturalwirtschaft getan haben. Kaum vermag der denkende Geist ohne Verzweiflung zu fassen, wie diese Milliarden dahin leben, Milliarden, die ihr armes, kurzes, unwiederbringliches Leben nur dazu bekommen haben, um sich in zahllosen kleinen Privathöllen zwischen viele überflüssige geschmacklose und hässliche Dinge einzusperren und ihre Ehre, ihre gesamte Lebenskraft darein zu setzen, nur ja korrekte Gesinnungen und korrekte Kleider zu tragen. Ach, so vorsichtig, so mittelmässig, beschämt, bequem und unselbständig. Und in aller Feigheit und Sehnsuchtlosigkeit so laut und ohne Ehrfurcht!

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Empfohlene Zitierweise:
Theodor Lessing: Der Lärm. J. F. Bergmann, Wiesbaden 1908, Seite 65. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_L%C3%A4rm.pdf/68&oldid=- (Version vom 31.7.2018)