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einem Kellerverschlage wird jeder Eimer Kohlen einzeln die Treppen heraufgeschleppt. Jedes Geschirr, jeder Teller wird einzeln gespült und getrocknet; und das in Tagen, wo eine „kraftsparende Arbeitsmaschine” in ein paar Minuten mehrere hundert Teller selbsttätig spülen und trocknen, in ein paar Minuten die ganze Arbeit erledigen kann, zu der hunderttausende Frauen dauernd ihren halben Arbeitstag verwenden. Und jedes Pfund Zucker, Kakao oder Reis wird drüben, vom Kleinhändler einzeln „eingeholt”. Die Bereitung eines Koteletts benötigt ein halbes Dutzend Gänge, Verhandlungen und Übereinkünfte. Alles aber stöhnt über Müdigkeit und Überbürdung; alles lebt nur in suspenso, ewig überhetzt, beschäftigt und nicht bei sich selber. Und überall kommt die Schönheit, kommt die Würde zu kurz. Unsere Frauen altern und verblühn, leisten eine Arbeitsmenge, die kein Mann zu leisten vermöchte und erreichen doch nichts, als dass alle dieses, Kochwirtschaft, Hauswirtschaft, Kinderpflege ganz unrationell, unzweckmässig und dilettantisch geübt wird, als dass sie mit all ihrer undifferenzierten, planlosen Wirtschafterei sich und andern das Leben vergällen. Zumal der Vormittag und der frühe Morgen in den Familienhaushalten der „weniger Bemittelten” ist eine kleine Privathölle. Ein ewiges Schruppen, Kratzen, Bohnern, Umkramen und Umräumen. Ein Tollhaus knarrender, kreischender, wetzender Geräusche. Dazwischen Zurufe und Menschenstimmen. Wenn dann schliesslich die rasselnden Privatmaschinen der Familienhaushalte leidlich in Gang kamen, wenn genug geklopft, gewischt, gerückt und geschruppt ist, dann ist der halbe Tag herum. Die Sonne steht in Mittag; die Arbeitskraft ist verbraucht, die Seele müde und stumpf. Und neunzig Prozent aller Lebenden widmet sich doch ausschliesslich diesem Lebensziele, Kochtöpfe und Kleider in guter Ordnung zu halten, um erträglich essen und schlafen zu können. Die kleine Schar der Übrigen, der „Überflüssigen”, die inmitten dieser Wirtschaftshöllen nutzlosen „Idealen” nachgehen, wird rücksichtslos niedergestampft…

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Wäre denn nun wirklich die Individualität bedroht, wenn man den Konsum unifizierte? Wenn man den Zucker, Reis, Kaffee, Tee, Kakao, mit Vermeidung alles Zwischenhandels und ungeheuerlicher indirekter Steuern, in grossen Quantitäten vom Orte der Produktion bezöge? Wäre denn wirklich euer „ideales Familienleben” in Gefahr, wenn ein Wohnhaus von 25 Parteien nicht 25 Badestuben, sondern einen einzigen grossen Baderaum mit allen nur möglichen Apparaten der häuslichen Hygiene und Gesundheitspflege aufwiese?… 25 Familien, die ein grossstädtisches Proletarierhaus in der Stadt Krähwinkel bewohnen,

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Theodor Lessing: Der Lärm. J. F. Bergmann, Wiesbaden 1908, Seite 63. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_L%C3%A4rm.pdf/66&oldid=- (Version vom 18.7.2022)