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zarte Organismen gleichgültig sei, wenn Stoffteilchen Krebskranker und Schwindsüchtiger in die Nahrungsmittel gelangen. Wir erfahren immer neu, dass unter der Herrschaft der allein seligmachenden Einfamilienwirtschaft ein einzelner Phthisiker[WS 1] in der Lage ist, den gesamten Umkreis seiner Angehörigen (trotz der sorgfältigsten Vorsichtsmassregeln) zu vergiften, dass jedes kleine Kind, das den Stuhl des lungenkranken Vaters umspielt, in ewiger Gefahr für seine gesunde Entwicklung schwebt. Denn das Kind, das die Fingerchen zum Munde führt, während es auf dem Boden herumspielt, scheulos und ohne die hemmende Berührungsangst des Erwachsenen, nimmt in dem widerstandsunfähigen Körper unvergleichlich mehr Krankheitskeime auf als der normale Erwachsene. Es verfällt daher in tuberkulöser Umgebung rettungslos der Infektion, von der es durch rechtzeitige Isolierung und energische Separation der Kranken bewahrt worden wäre, auch dann, wenn seine leiblichen Eltern, beide, Phthisiker sind. Denn die Tuberkulose (selbst wenn man die Tatsache „organischer Disposition” zugibt) wird nicht als solche im Mutterleibe erworben, sondern kann erst durch Infektion irgendwie „ausgelöst” werden. – Nun aber bedenke man auch, wie alle diese Betten und Polster, deren tosendes Ausklopfen uns beständig in den Ohren liegt, durch öffentliche Unreinlichkeit und das üble Ausspucken belastet sind. Überall, an den harmlosesten Orten, kann sich in Zeugstoffe virulenter Auswurf in Form getrockneten Staubes nisten. Bei der grauenhaften Rücksichtslosigkeit der meisten sogenannten Menschen schwebt solch armes schutzloses Kind, das nicht zufällig als Generalstochter oder Bankierssohn in die Welt tritt, und nicht von waadländischer Amme oder englischer Gouvernante behütet wird, fortdauernd in der Gefahr, bei harmlosen Spielen die ekelhaften Gifte unreinlicher Menschen in sich aufzuspeichern… Man überzeuge sich nur in den Pferdebahnen und elektrischen Bahnen, in Eisenbahnwaggons, von der untersten bis zur obersten Klasse, in Fluren öffentlicher Gebäude, Universitäten, Akademien von der naiven Unverfrorenheit und Selbstverständlichkeit, mit der diese Menschen, Männer und Weiber, überall hinspucken, ohne dass irgendwem einfällt, solche Lamas verantwortlich zu machen und ihre Unsittlichkeit zu verbieten… Ferner denke man auch an die vielen Menschen, die ihr Leben lang Treppen zu steigen haben, täglich, Haus an Haus, hinauf und wieder hinab, deren Leben sich recht eigentlich auf den Treppen und in der Hausflur der anderen abspielt; Briefboten, Geschäftsboten, Hausierer, Gerichtsvollzieher, Agenten, Ärzte, Privatlehrer. Ermisst man wohl die Infektionslast, die wir täglich durch diese Unarten der Hausreinigung zu paralysieren haben? Da beim Treppensteigen Lunge und Herz heftiger arbeiten, so drängt sich der trockene Staub, den die ausgeklopften Möbel und Kleider in den lichtlosen, ungelüfteten Treppenhäusern

Anmerkungen (Wikisource)

  1. ein an Lungentuberkulose Erkrankter
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Theodor Lessing: Der Lärm. J. F. Bergmann, Wiesbaden 1908, Seite 59. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_L%C3%A4rm.pdf/62&oldid=- (Version vom 31.7.2018)