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und Bettenklopfens.… Man vergegenwärtige sich ein grossstädtisches Wohnhaus! Zehn, zwanzig, oft fünfzig Parteien wohnen unmittelbar neben- und übereinander. Keine Partei kennt die andere. Keiner kümmert sich um den Nachbarn. Keiner nimmt am Ergehen des andern teil. Man hockt nur zufällig unter dem selben seelenlosen Dache. Man fühlt sich in keiner Weise solidarisch, in nichts füreinander verantwortlich. Es bleibt auch vollkommen der Willkür anheimgegeben, wann und wie oft ein jeder Hausbewohner seine Bekleidungsstücke, Decken, Bettstücke, Matratzen, Teppiche und Polstermöbel ausstauben will. Er kann das tun, wo ihm beliebt, im Hofe, im Hausflur oder auch im Treppenhause. So kommt es, dass kein Tag, ja keine Stunde im Tage vorübergeht, ohne dass irgend ein Bewohner der Proletarierkaserne ein plötzliches grosses Reinemachen inszeniert. Irgendwo wird immer geklopft, ein Teppich gebürstet, ein Läufer bearbeitet, ein Wäschestück oder eine Matte geschüttelt. Sollte aber wirklich einmal auf ein paar Stunden Frieden im Hause walten, dann kann man gewiss sein, dass von Baikonen der Hinter- und Nachbarhäuser her, oder von der gegenüberliegenden Strassenseite, von irgendwo, aus übervölkerten, mit Elend vollgestopften Mietkasernen das furchtbare, unablässige, ruhelose Geklopf und Gedröhne in Staub- und Schmutzwolken herüberschallt. Nun aber ist diese kontinuierliche Kanonade sämtlicher Hausfrauen und Dienstmädchen noch nicht das Schlimmste am Übel. So sehr das Ohr unter den Klopfgeräuschen leidet, so schwer es für den mittellosen, auf Duldung der Menschen angewiesenen „Breadwinner” ist, unter diesen täglichen Einbussen geistig zu schaffen, so schwierig es in Grossstädten wird, sich vor Schlaflosigkeit zu wahren und nicht durch schlaflose Erschöpfung frühzeitig zugrunde zu gehen, so sind dies alles doch nicht die eigentlichen hygienischen Schäden, die mit dem Lärm der Hauswirtschaft verbunden sind.

Blicken wir auf die nicht genug zu preisenden Fortschritte, die die Hygiene des Städtelebens während der letzten zehn Jahre gemacht hat, dann ergreift uns Verwunderung darüber, dass den Seiten des täglichen Lebens, von denen ich jetzt sprechen will, nicht mehr Aufmerksamkeit zugewendet wurde. Ich glaube nicht zu übertreiben, wenn ich die Hälfte aller infektiösen Erkrankungen auf mangelhafte Hygiene der privaten Hauswirtschaft, insbesondere aber auf die gegenwärtige Reinigung der Polstermöbel und Betten zurückführe. Man stelle sich beispielsweise vor, welche Verbreitungschancen die Phthisis oder Tuberkulose in einem volkreichen Proletarierviertel besitzt. Wir wissen, dass die Zeit noch nicht fern liegt, wo jeder zweite Arbeiter vor dem dreissigsten Lebensjahre starb, wissen, dass man noch vor zwei Generationen in England und Deutschland voraussetzte, dass jeder siebente Mensch eine tuberkulöse Infektion zu erleiden habe. Man

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Theodor Lessing: Der Lärm. J. F. Bergmann, Wiesbaden 1908, Seite 57. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_L%C3%A4rm.pdf/60&oldid=- (Version vom 31.7.2018)