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jeder Hochzeit und Kindstaufe allarmieren, hat kaum eine Berechtigung. Es ist auch unrichtig, bei jedem vorüberkommenden Leichenkondukt die Glocken zu ziehen, da niemand, der das Geläute hört, die Veranlassung kennt, und wirklich an den Toten denkt und da andererseits die ganze Erbaulichkeit jederzeit und für jedermann gegen feste Taxe zu erkaufen ist… Dieses alles muss nachfühlen, wer nur jemals unter den Glocken längere Zeit aus nächster Nachbarschaft gelitten hat. Ich habe viele Monate neben dem Glockenturme von Klöstern und Stiften wohnen müssen, habe, zumal in Innsbruck und Südtirol, Nacht um Nacht ein meinen Schlaf vernichtendes Glockengedröhn erlitten, und in kleinen Nestern einen Missbrauch der Glocke gesehen, der so weit ging, dass man nicht nur läutete, wenn irgendwo ein Kind zur Welt kam, sondern auch wenn die Kuh des Dorffürsten kalbte oder ein Gewitter in der Luft stand. Fast grausam ist es aber, Glockentürme oder Uhren mit Choralbegleitung und ähnlicher mechanischer Musikspielerei einer ganzen Stadt, unter deren Tausenden doch wahrscheinlich auch drei oder vier denkende Köpfe sich befinden, schlankweg aufzudrängen. Solche Musikkunstwerke, solche Mechaniker- oder Uhrmacherleistungen sind hübsch und respektabel, wenn sie uns hie und da einmal an entlegener Stelle begegnen, in der Sebalduskirche in Nürnberg, im Strassburger Münster, an der Rathausuhr in Prag. Aber ein reizbares, feines Gehör, ein kultiviertes Ohr empfindet dergleichen als Barbarei, wenn man, (wie mir in Liegnitz geschah)[1], gezwungen wird, neben einem Kirchturm zu schlafen, von dem Stunde um Stunde die selbe Choralmelodie seelenlos mechanisch herniederdröhnt, bis sie sich schliesslich in jede Arbeit und sogar allmählich in die Träume schiebt und die gesamten Funktionen des Organismus sozusagen auf ihren Rhythmus dressiert, den man, wofern solche Einwirkung in früher Jugendzeit erfolgt, sicher lebenslang nicht mehr aus dem Ohre bringt. Wie vornehm und würdig erscheint dagegen der einsame Ruf der Moslem von den Minarets und Moscheen zur Stunde des Gebets, wie würdig das schweigende Anzünden des durch den Abend brennenden Synagogenlichtes, wenn die Stunde zur Einkehr kommen ist. Fast gewaltsam erschien mir, wenn in den kleinsten italischen Berg- und Klosterstädten in der heiligen Christnacht oder zu Sylvester und Ostern alle Stunden ein Wald von Glocken über Kranke und Gesunde, Tanzende und Sterbende, Nachdenksame und Stumpfe dahinbrauste, einem jeden zurufend: „Höre hübsch zu. Wir wachen hier als deine Schicksalsmacht. Wir können den Schlaf deiner Nächte, die Einkehr deiner kurzen Tage vernichten, ob dich nun unsere Predigt angenehm oder unangenehm, sinnlos oder


  1. Es möge zu Ehren der guten Stadt Liegnitz vermerkt sein, dass inzwischen ihr furchtbares Glockenspiel in den Nachtstunden zwischen 10 bis 6 Uhr abgestellt wurde.
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Theodor Lessing: Der Lärm. J. F. Bergmann, Wiesbaden 1908, Seite 52. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_L%C3%A4rm.pdf/55&oldid=- (Version vom 31.7.2018)