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so soll das keinerlei Verletzung von Kirche und Religion, keinerlei Verletzung geheiligter Gefühle umschliessen. – Es liegt im Wesen einer neuen Religiosität, dass liturgische Symbole und Akte, aus dem öffentlichen Leben verschwinden, um nur tiefer in das Sanktuarium des Menschenherzens eingeschlossen zu werden. Die Glocke, die alle Stunden des Tagewerks, alle Ereignisse eines Einzellebens mit ihrem Klange begleitet, ist das Überbleibsel einer Zeit, wo tatsächlich der Einzelne in das Leben kommunaler Verbände eingesenkt war. Die Kirche konnte sich damals als einzige sozialpolitische Autorität auch in jedes Anliegen der Tagesordnung einmischen. Die Religion war noch nicht „Privatsache“, noch nicht die innerste Angelegenheit, die ein Mensch nur allein mit sich selber ausmachen kann und darf. Sie wurde autoritativ eingeengt, vorgeschrieben, reglementiert und nivelliert. Heute aber verschanzt sich hinter der religiösen Freiheit das individuellste Recht des Menschen. Ein innigeres, persönlicheres Fühlen löst die „Religion” von politischen, sozialen und sogar von moralischen Zwecken ab. – Religiöse „Sünde” und sittliche „Schuld”, Sorge um das „Seelenheil” und ethische „Pflicht”, das ist für uns durchaus Zweierlei geworden. Dabei gewann sowohl das religiöse wie das wirtschaftspolitische und soziale Interesse an Klarheit und Reinlichkeit.

Was also hätte es heute für einen Zweck, wenn die Kirche ihr Hirtenamt auch auf gesellschaftliche Formen ausdehnen wollte, die nur an der Peripherie des Seelenlebens liegen, wenn sie Lebensverhältnisse bevormunden wollte, die nicht autoritativ zu regeln sind. Auf dem Lande, in ganz einfachen, patriarchalischen Verhältnissen, in allgemein gleichartigen Sitten und Lebensbedingungen, da hat es schönen, tiefen Sinn, wenn die Glocke zum Aufstehen, Vesper und Arbeitspausen mahnt, wenn sie Gebet und Tod, Gefahr und Freude, Morgen und Abend einläutet. Denn alle teilen ja beim gleichen Anlass die gleichen Gefühle. Alle orientieren sich willig an diesem Symbol. An Stätten dagegen, wo Menschen verschiedener Berufe, Daseinsformen und Arbeiten, verschiedenen Bekenntnisses und Weltgefühls eng beieinander wohnen und die Kirche viel weniger als jede praktisch wirtschaftliche Idee eine Vereinheitlichung des Lebens verwirklichen kann, da ist es störend, wenn sich Glockentöne, deren Bedeutung keiner fühlt und kennt, aus allen Richtungen der Windrose in Privatgefühle und Privatgedanken mengen. – Wo ergreift denn dieses Glockenspiel? Irgendwo im weltfernen Weiler, aus verlorenem Kapellchen, aus einsamem Kloster, hoch oben auf dem Fels. Aber wahrlich nicht, wenn aus hundert Domen, Kirchen und Kapellen immer die gleichen niemals einstimmig abgetönten Klänge uns entgegendröhnen. – Man läute die Glocken, wenn wichtige, nationale Anlässe gegeben sind, wenn ein grosser verehrter Mensch die Stadt besucht, ein gewichtiger Gedenktag gefeiert, ein Mächtiger begraben wird. Aber die ganze Gemeinde bei

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Theodor Lessing: Der Lärm. J. F. Bergmann, Wiesbaden 1908, Seite 51. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_L%C3%A4rm.pdf/54&oldid=- (Version vom 31.7.2018)