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„Autosport” etwas Besseres ist als ein Kind von Luxus und Langeweile. Aber so verständlich dieser Sport ist, so verführerisch und so verlockend, – es ist doch andererseits nicht zu verkennen, dass erst das Kraftfahrzeug die beispiellose Vernüchterung und Verrohung des reisenden Menschen vollendet und jenen letzten Rest von Ritterlichkeit und Anstand aus dem Verkehrsleben heraustreibt, den das Zeitalter der Eisenbahn und des Dampfschiffes etwa noch übrig gelassen hat.

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Wenn die Lärmgrösse, mit der Volk und Einzelmensch sich durch die Welt bewegt, neben seinem Verbrauch an Wasser und Seife, ein Mass für die seelische „Bildung” bietet, dann sind wir im tiefsten Tiefstand der Seelenkultur angekommen. Dass aber gar die deutschen Bundesstaaten ohne Einspruch der Landtage zu unseren alljährlich stattfindenden „Herkomerfahrten” und „Automobilrennen” unsere öffentlichen Landstrassen hergeben, kann ich nicht begreifen. Es ist bisher noch nicht eine einzige Wettfahrt vorübergegangen, die nicht wenigstens ein halbes Dutzend Leben geopfert hätte. Man baue eigene Strassen, wie für die Eisenbahnen, die meist weniger tückisch dahersausen als ein Automobil. Vor allem aber zwinge man die Automobilbesitzer zu einer Haftpflichtgenossenschaft. Nach der Reichsstatistik sind innerhalb von sechs Monaten (1. April bis 30. September 1906) 2290 Automobilunfälle in Deutschland vorgefallen. Hierbei konnten in 283 Fällen die Besitzer der Fahrzeuge nicht ermittelt werden. In 17% aller Fälle floh der Fahrer feige davon. In weiteren 3% versuchte er zu entfliehen. 987 Sachbeschädigungen sind zu verzeichnen. 1519 Menschen wurden verletzt; 51 Menschen getötet. Dabei gibt es im Deutschen Reich vorerst nur ca. 27 000 Automobile. Während die vielen tausende Berliner Strassen- und Vorortsbahnen alljährlich 27 Menschen töten, kommen allein durch 2400 Automobilfahrer in Berlin jährlich 10 Personen ums Leben. Man hat nun neuerdings den wehmütig stimmenden Plan ausgeheckt, die Lüneburger Heide in eine deutsche Automobilrennbahn umzuwandeln. Eine niedersächsische Heimatgenossin schreibt darüber Klagen, die ich so schön finde, dass sie hier stehen mögen: „Die Lüneburger Heide soll zu einer Automobilrennbahn mit grosser Chaussee, künstlichen Hügeln und Fabrikanlagen umgewandelt werden. Das Heidekraut, das in unübersehbaren Feldern blühte und aus dem der beste Honig der Welt kam, soll niedergewalzt werden; die Marschen, die sich voll so unendlicher Grazie und Schwermut zum Meere, dem deutschen Meere, niedersenkten, sollen applaniert und Gott sei Dank endlich einmal mit Kies beschüttet werden; Plakate von Opel und Darracq werden die Eintönigkeit der Fläche munter beleben; Automobilgaragen,

Empfohlene Zitierweise:
Theodor Lessing: Der Lärm. J. F. Bergmann, Wiesbaden 1908, Seite 46. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_L%C3%A4rm.pdf/49&oldid=- (Version vom 31.7.2018)