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2.

Wenn die Klage über den Peitschenknall heute weniger aktuell ist, als in Tagen Schopenhauers, so bedroht dafür unser Nervensystem ein neues Geräusch, das unvergleichlich schrecklicher ist, als aller lärmende Trubel, den die einst lebenden Geschlechter von toten oder lebendigen Radauinstrumenten erdulden mussten. Ich denke an die transportablen Maschinen, die Strassenlokomobile, das Motorrad, den Motoromnibus, vor allem aber an das Automobil. Diese Entvölkerungsmaschine, die das Ziel der Maltusschen Theorieen auch ohne Hungersnöte erfüllt, verändert vollkommen das Strassenbild der modernen Städte. Vierhundertpfündige Kraftbolzen rülpsen roh daher im tiefsten Tone der Übersättigung. Schrille Pfeifentöne gellen darein. Riesenautos, Achthundertpfünder, die „jeden Rekord nehmen”, stöhnen, ächzen, quietschen, hippen und huppen. Motorräder fauchen und schnauben durch die stille Nacht. Blaue Benzinwolken rollen mit grauenhaftem Gestank über die Dächer. Bleichen das Grün der wenigen Bäume, wandern über das kleine schmale Stückchen schmutziggrauen Himmel, das zwischen den kahlen Steinmauern irgendwo noch auftaucht. Grässliche Signale durchbrechen von Zeit zu Zeit die erstickende, bleierne Dunstschicht. Das ist die Morphologie der Stadt. Auf das stolze Zeitalter der stinkenden Steinkohlenbahn und lärmenden Dampfmaschine ist die lautere und stinkendere Periode der Kraftaufspeicherungs- oder Explosivmaschinen gefolgt. Der Zylindertyp weicht dem Turbinentyp, der Kohlengeruch dem Benzingestank. Niemals hat sich der Mensch mit mehr Gelärm, unter schrecklicherem Geruch über die Erde bewegt. Es ist wahr, wir sind von der Postkutsche und der romantischen Tuterei der Postillone erlöst. Wir sind erlöst von der ewigen Klingelei und holprigen Rasselei der kleinen Pferdebahn. Peitsche und Sattel kommen ausser Gebrauch. Das Pferd avanciert vom armen Arbeitssklaven zum Luxustier, und kein Vernünftiger wird die Droschke alten Kalibers dem modernen Auto vorziehen. Aber der Tausch überbürdet unsere Sinne mit einer entsetzlichen Belästigung, die so lange dauert, als die Region des Privatlebens und jene des Geschäftsverkehrs nicht getrennt sind und nicht das Maschinenleben auf eigens errichtete Fahrstrassen mit geräuschlosen Gleisen gebannt wird. Die heilige Theresia hat die Hölle als den Ort definiert, „wo es stinkt und man nicht liebt”. Vielleicht hat sie an die Friedrichstrasse in Berlin gedacht. – Ich glaube gewiss, dass Autos, Motorräder, Kraftwägen und lenkbare Flugmaschinen die Vehikel der Zukunft sind; ich glaube, dass erst die allgemeine Ausbreitung des elektrischen Vorortverkehrs schliesslich ganz neue Riesenstädte, voll Feldern, Parks und Gärten, möglich macht, deren eine einzige vielleicht so gross wie halb Belgien ist. Ich zweifle daher auch nicht, dass der momentan moderne

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Theodor Lessing: Der Lärm. J. F. Bergmann, Wiesbaden 1908, Seite 45. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_L%C3%A4rm.pdf/48&oldid=- (Version vom 31.7.2018)