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haben, um so furchtbarer muss der fortdauernde Anreiz zu Ablenkung und Zersplitterung, den eine laute, sich aufdrängende Umwelt ausübt, uns quälen, verbittern und demütigen. Hierzu aber kommt, dass die Orientierung durchs Ohr ein Spezifikum der geistigen Wesen und darum die vornehme Besonderheit des Menschen ist. Mehr als jedes andere Naturwesen ist der Mensch auf sein Gehör angewiesen. Das dokumentiert sich in der unvergleichlichen Schönheit und Bildungsfähigkeit seiner Stimme. Denn überall, wo die „Welt” aus Ton und Klang gewoben wird, ist auch die Stimme klangreich und wohltönend. Diejenigen Wesen dagegen, die sich vorwiegend durch die gröberen Sinne, insbesondere durch den Geruchssinn orientieren, haben auch rauhe, hässliche und ärmliche Organe. Organ und Gehör stehen im Verhältnis wechselseitiger Abhängigkeit. Man denke nur an Singvögel und Raubtiere…


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Wir wissen kaum, in welchem Grade musikalische Elemente der Sprache, wie Tönung und Klangfärbung, bei allem Verstehn und Sichverständigen leitend sind. Nicht was wir „vernehmen”, sondern was wir hören, ist das für uns Wichtige. – Jene rein perzeptive Seelenfühlung, die die unbewusste Direktive auch für alle Menschen- und Weltkenntnis bietet, rechnet nur wenig mit dem, was einer redet; aber sie weiss sehr feinhörig das unbewusste Wie der Rede zu erlauschen, welches niemand klar in seiner Gewalt hat. Ja, ich glaube, dass der Mensch sogar sich selber nur so lange versteht, als er schweigt; sobald er aber zu reden beginnt, ist sicherlich irgend jemand unter den Hörern besser imstande, den Redenden zu verstehen, als er sich selber zu durchschauen vermöchte. Was sich aller Bewusstheit, Willkür und Verstellung entzieht und was niemand an sich selbst kennt (so wenig als das Auge sich selber sieht), das liegt ausschliesslich in den klanglichen Elementen der Stimme verborgen. Daraus erklärt sich auch, dass Blinde, die nach Shakespeares schönem Worte „mit den Ohren sehen”, einen besseren Schlüssel zur Seele und damit eine reichere Weltkunde besitzen, als Taube oder Taubstumme. In der Geschichte der Künste haben die Blinden stets eine bedeutende Rolle gespielt; Taube dagegen und Taubstumme nur selten reicheres Weltgefühl geoffenbart. Sie sind in der Regel misstrauisch, unzufrieden; ihr verzagtes, ängstliches, hilfloses Gesicht beweist deutlich, dass sie keinen Anteil an dem Glücke weiten geistigen Verständnisses haben, das das Antlitz der Blinden friedlich und ehrwürdig macht.


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Wie gross der unbemerkte Einfluss ist, den viele Empfindungen von Tönen, Lauten, Klängen und Geräuschen auf unser Erleben ausüben,

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Theodor Lessing: Der Lärm. J. F. Bergmann, Wiesbaden 1908, Seite 36. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_L%C3%A4rm.pdf/39&oldid=- (Version vom 31.7.2018)