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Darum weiss schon Plato von seinem Himmel reiner Ideen nichts Kennzeichnenderes zu sagen, als dass man in seinen Sphären keine Geräusche höre. Denn alles Geräusch hängt in der Wurzel mit irgendwelchem struggle for life zusammen, sei es in Form der Konkurrenz, oder sei es in Form der Abwehr. Lärm ist nichts anderes als ein grosses Streitmittel, mit dem ein Geschöpf dem andern zu imponieren versucht. Und auch hinter der subtilsten Art geflissentlichen Lärmes steht noch der Machtwille und die Unvollkommenheit … Ein altes Sprichwort sagt, dass „Hunde, die am lautesten bellen, am seltensten beissen”; – es zeigt sich in der Tat, dass alles, was sich lärmend anzuempfehlen oder durch Lärmen zu erschrecken sucht von der Sicherheit des Siegers am weitesten abwohnt. Jedes Lebewesen aber kämpft mit Waffen, die Not und Schicksal ihm leihen. Das Insekt, das nicht duften kann wie die Lilie hat wenigstens die Macht, sie zu besudeln. Und so kann auch jeder Fuhrknecht, der das verfeinerte Faustrecht des Lärmens übt, Gedanken im Haupte selbst eines Tasso zerbrechen. Damit wehrt und verteidigt er sich gegen die Macht des Geistes, der auch sein Leben langsam in die leidensreiche Fessel der Kultur einschmieden will. Man beachte also, womit die Masse des Volkes immer und überall zu argumentieren und zu kämpfen gewohnt ist! In jeder Volksversammlung entscheidet die Lunge. Missliebigen Staatsmännern zeigen sie durch Gejohle ihre „Weltanschauung” an. Missliebige Gelehrte boykottieren sie durch „Katzenmusik”. Mit nichts anderm beteiligt sich die kompakte Majorität an Aufständen und Revolten, ja an allen ungewöhnlichen Augenblicken der Geschichte, als mit unaufhörlichem Geschrei. Und die sich in Können und Tat am kläglichsten und feigsten erweisen, sind die frechsten und lautesten Schreier! Kein Unglück wird schweigend, kein Kampf in Stille durchkämpft; es muss alles an die Glocke! Überall in der menschlichen Gesellschaft wird lamentiert, medisiert, gebetet, gebettelt und geweint. Denn das sind Mittel, mit denen sich Leiden und Problematik betäuben, mit denen jeder Konflikt sich auf andere abwälzen lässt. Alles aber, was der Mensch noch bespricht, deutet auf einen Wunsch, nicht aber auf Besitz. – Wenn nur die vitale Energie, die bei einem einzigen unsrer Schützen-, Turner- und Sängerfeste im chauvinistischen Selbstgefühl und patriotischem Gerede verpulvert wird, täglich und stündlich in den Dienst produktiver nationaler Arbeit gestellt würde, dann könnte das deutsche Volk bald das vornehmste und beste aller Völker sein! Aber es ist das untrügliche Zeichen unsrer nationalen Unreife, dass bei uns zu vielerlei gelärmt, gewollt und gesprochen wird, während der kulturelle Besitz und die Reife schweigen und leisten würden. Es ist symbolisch, dass die sicherste und edelste Kultur, die es heute gibt, die Kultur der englischen Gentlemen auch die knappste, schlichteste und leiseste Sprache redet. Der

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Theodor Lessing: Der Lärm. J. F. Bergmann, Wiesbaden 1908, Seite 21. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_L%C3%A4rm.pdf/24&oldid=- (Version vom 18.7.2022)