Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Kräfte, – sie toben sich aus in Formen höchster Selbstgefälligkeit. Für diesen inneren Zusammenhang des Lärmes mit menschlichem Macht- und Aktivitätswillen ist unverkennbar charakteristisch, dass jede Klage über Lärm (der doch so viele reine Erhebungen, so viele unwiderbringliche Stunden des Menschengeschlechts rücksichtslos mordet), von den Meisten unverzüglich mit einem feinen Lächeln schadenfrohen Wohlgefallens quittiert zu werden pflegt. In diesem leisen Lächeln verbirgt sich die geheime Befriedigung darüber, dass Klage über ein Leiden stets die Anerkennung einer Macht involviert. Denn die Lust, seinesgleichen oder gar höher gearteten Wesen subtile Schmerzen zufügen zu können, ist für den rohen, primitiven, gemeinen Menschenwillen durchgängig ein Hauptmotiv, das ihn bei allen erdenklichen Gelegenheiten zu Skandal und Lärm als zu seiner natürlichen Lebenswaffe greifen lässt. Nur mit ihr weiss er sich „durchzusetzen”, andere zu belästigen, ja schliesslich moralisch tot zu machen…


*     *     *


Lichtenberg hat vom Lärm gesagt, dass er ihn nur dann unerträglich fände, wenn er den „Zweck” störender Geräusche nicht einsehen oder billigen könne. Daher pflege er, wenn er eine Horde unnützer Jungen vor seiner Türe lärmen höre, sich lebhaft vorzustellen, dass eben der selbe Lärm der selben Jungen, vielleicht dienen werde, die Franzosen oder Engländer im nationalem Kampf aus dem Felde zu schlagen. Das pflege ihn versöhnlicher gegen die Lärmbolde zu stimmen. Das nenn ich in der Tat echt nordisch-rationell gedacht! – Als ob nicht aller Jugendlärm von Kindern und Völkern seinen „Zweck” und seine „Rechtfertigung” eben in sich selber trüge?! Die „Rechtfertigung” des ganz unnennbaren Lärmes in italienischen Städten, die Sanktion der unzähligen völlig entbehrlichen Geräusche (die schon das Epos des Malers Bronzino tragikomisch aufzuzählen versuchte), – sie liegen ausschliesslich in der triebhaften Freudigkeit, mit der alle die lärmenden Existenzen, diese Fruchthändler, Hausierer, Limonadenverkäufer, Bettler, Lazzaroni, Taugenichtse, Hochstapler und naiven Gauner, ihr Vergnügen an der Sonne in die blauen Lüfte hinausschreien[1]. – Dagegen betrachte man das Antlitz intellektueller und ethischer Kulturen! Die späte biologisch-alte Zivilisation des gelehrten Chinesen, des frommen Buddhisten, des gebildeten Türken, sie bewährt sich vor allem in der stummen bewundernswerten Selbstbeherrschung und kontemplativen


  1. Als ich in die Wasserstadt Venedig kam, glaubte ich in ein Reich der Totenstille zu kommen, dachte, ein „buontempone” zu werden und endlich einmal entrückt zu sein alle dem Lärm und Geruch unseres Strassenverkehrs. Aber nirgendwo habe ich solche Schreihälse, solche Schmutzfinken wiedergesehen.
Empfohlene Zitierweise:
Theodor Lessing: Der Lärm. J. F. Bergmann, Wiesbaden 1908, Seite 19. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_L%C3%A4rm.pdf/22&oldid=- (Version vom 31.7.2018)