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zurück verwandeln kann. Auch die Arbeit unterstellt sich jener allgemeinen Tendenz der Bewusstseinsbetäubung. Auch der „arbeitende” Teil der Menschheit scheint sich mit jeder Art ethisch-intellektueller Betätigung nur das Mittel zu monotonen Narkosen des Ichbewusstseins zu beschaffen. Das Leben gerade der tüchtigsten „Pflichtmenschen” hat keinen anderen Sinn als den, sechs Tage lang das individuelle Bewusstsein mit Arbeit zu betäuben, um dadurch die Möglichkeit zu gewinnen, am siebenten eben das selbe mit Mitteln des „Amüsements”, oder vermittelst Musik oder Religion zu tun. –


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Der Lärm nun ist das primitivste und plumpeste, zugleich aber das allgemeinste und verbreitetste Mittel der Bewusstseinssteuerung. Dies erweist sich an seiner natürlichen Verbindung mit dem Alkohol. Es erweist sich in der bezeichnenden Wendung, dass der Mensch gerne sich dort bewege, wo es „laut und lustig” zugeht…

Nun aber tritt etwas sehr Merkwürdiges ein! Jene „narkotischen Funktionen”, die wir ursprünglich als Schutz- und Trutzmittel wider die „Bewusstheit” zu betrachten haben, können auf einem bestimmten Niveau nervöser Erschlaffung neuerdings zu einem Reizmittel für Bewusstsein werden. Und dies gilt auch für den Lärm. Er ist ursprünglich nur verfeinertes Faustrecht und die Rache, die der mit den Händen arbeitende Teil der Gesellschaft an dem mit dem Kopfe arbeitenden nimmt, dafür dass der ihm Gesetze gibt. Aber gleich wie ein beunruhigender Gedanke oder eine Sorge auf dem Gipfel ihrer einseitigen Lebendigkeit keinen Ausweg mehr gestatten als den, dass „man sich in sie einwühlt”, sich ihnen völlig hingibt und gleichsam im Denken selber berauscht oder zernichtet, so kann auch umgekehrt jedes Bewusstsein übertäubende Mittel schliesslich zum Mittel der Bewusstseinssteigerung werden. Hierfür sprechen so komplizierte und seltene Fälle wie die folgenden, die nur scheinbar meine Psychologie des Lärmtriebes, als des „Triebes zur Bewusstseinsretardierung”, Lügen strafen…


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In der Biographie Mozarts lese ich, dass der grosse Mann in einer engen Stube unter dem fröhlichen Gelärme, seiner spielenden Kinder geschaffen habe. Von diesem Lärme äusserte er gelegentlich, dass er sein Produzieren nur dann störe, wenn ein einzelnes Geräusch fesselnd an die Aufmerksamkeit heranträte, während die unbestimmte Lautheit der Umgebung sogar stimulierend auf seinen Schaffenstrieb wirke. – Hierin äussert sich zunächst eine oft bestätigte Erfahrung. Wer über

Empfohlene Zitierweise:
Theodor Lessing: Der Lärm. J. F. Bergmann, Wiesbaden 1908, Seite 11. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_L%C3%A4rm.pdf/14&oldid=- (Version vom 31.7.2018)