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Religion oder der Musik die letzte Sanktion und Notwendigkeit für das Leben verleiht. Wir können diesen Zusammenhang klarer durchschauen, wenn wir den Lärm mit dem Alkohol vergleichen, oder mit einem der vielen Stimulantien und Narkoticis, wie Haschich, Opium, Kola, Nikotin, oder endlich mit jenen unentbehrlichen Alkaloiden nutritiver Reizmittel, denen keine Speisehygiene, keine Abstinenzbewegung jemals völlig beikommen wird, weil sie organische Bedürfnisse befriedigen und nur in ihrer jeweiligen Dosierung, in ihrer quantitativen oder distributiven Verwendung im physischen und psychischen[WS 1] Lebenshaushalt einer Generation, nicht aber an und für sich selber entbehrlich und bekämpfbar sind. Alle diese Reiz- oder Rauschmittel nämlich dienen genau wie der Lärm, um die Trieb- und Gefühlssphäre, (also die subjektive Seite des Lebens) frei zu machen, zu erweitern und momentan emporzusteigern. Oder anders ausgedrückt: sie dienen dazu, die intellektuellen, rationalen, bewussten (also „objektiven“ Funktionen der Seele) zu dämpfen, zu verengern und zurückzudrängen. Dieses freilich vollzieht sich vollkommen ungetrübt nur in jenen religiösen, musikalischen oder ästhetischen Wertrichtungen der Kultur, denen just nüchterne, trockene, affektiv dürftige Individualitäten als den Kompensativmächten ihrer rationalen, objektiven, die Persönlichkeit abtragenden Lebensbewährung am kritiklosesten zu verfallen pflegen.


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Hinter allen diesen Erfahrungen steht ein folgenschwerer Zusammenhang. Schon die älteste Psychologie (die der Inder) hat in der Lehre vom dukha-satya, d. h. von der „Identiät des Wissens und Leidens“ einer grundlegenden Beobachtung primitiven Ausdruck gegeben. Allezeit aber verknüpfte sich mit dieser Erkenntnis die religiöse Bevorzugung und teleologische Höherwertung der ungewussten, selbstvergessenen, instinktiven Seiten des Lebens, gegenüber seinen rationalen Gewinnposten an Wissen und Erkennen, an ethischer, intellektiver und technischer Naturbeherrschung. Es überkommt wohl jeden denkenden Menschen zuweilen die Ahnung, es sei zu allem Fortleben eine ewige Selbsttäuschung notwendig, es könne menschliches Leben nur auf dem Hintergrunde dauernden Nichtwissens und traumhaften Rausches erträglich bleiben. Diesen „Rausch“ trägt der junge und gesunde Mensch schon im Blute. Der Starke, Junge, Lebendige lebt an und für sich in einer normalen Trunkenheit. Er entbehrt daher nicht jener Stimulativmächte, die (mit unbewusstem Raffinement) auch im abflauenden, vernüchterten, klug und ohnmächtig, weise und ängstlich gewordenen Leben einen bestimmten Grad täglicher Betäubung unterhalten. –


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Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: psychischem
Empfohlene Zitierweise:
Theodor Lessing: Der Lärm. J. F. Bergmann, Wiesbaden 1908, Seite 9. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_L%C3%A4rm.pdf/12&oldid=- (Version vom 31.7.2018)