Dann kam jener Sonntag, den ich wohl nie vergessen werde – nie! Am Nachmittag machten wir, meine Eltern und ich, einen Ausflug nach einem Felsgrat, von dem aus man einen wundervollen Fernblick über die Wüste hatte. Wir hatten uns einen Rucksack mit Lebensmitteln mitgenommen und wollten dort den Sonnenuntergang erwarten.
Es war im August, und die Hitze war bei der herrschenden Windstille mehr als erschlaffend. Als wir jenen vorspringenden Felsen erreicht hatten, mußte meine Mutter sich sofort niederlegen, da sie von dem Marsch vollständig erschöpft war. Mein Vater und ich durchstreiften inzwischen die Umgebung und suchten nach Anzeichen für erzführendes Gestein.
Plötzlich überfielen uns dann eine Anzahl Beduinen, höchst kriegerische Gestalten, denen gegenüber Gegenwehr ein Wahnsinn gewesen wäre. Uns wurden sofort in rohester Weise die Hände gefesselt, und wir nach jenem Felsgrat geschleppt, wo meine arme Mutter ahnungslos sich ausgeruht hatte.
Als wir den mächtigen Felsblock erreichten, vorwärtsgetrieben mit Kolbenstoßen und Fußtritten, fanden wir nur noch … eine Tote vor. Das helle Gewand meiner Mutter war mit Blut besudelt, und in ihrem Herzen steckte ein persischer, langer Dolch, den mein Vater ihr vor kurzem geschenkt hatte und den sie stets bei sich trug – am Gürtel als Schmuckstück, da Scheide und Griff reich verziert waren.
Meine Mutter hatte sich selbst den Tod gegeben, um den wilden Beduinen nicht lebend in die Hände zu fallen …
Als mein bedauernswerter Vater die geliebte Tote erblickte, stieß er einen wilden Schrei aus, der mir noch heute in den Ohren gellt, wenn ich an jene Szene zurückdenke.
Mit einem Ruck, mit einer übermenschlichen Kraftanstrengung zerriß er seine Fesseln und stürmte auf die Leiche zu, warf sich über sie und brach in ein Schluchzen aus, das nur zu deutlich die Qualen seines schmerzdurchzitterten Herzens verriet. Einem Stein hätte dieses Schluchzen Erbarmen eingeflößt … Nicht so den braunen
W. Belka: Der Gespensterlöwe. Verlag moderner Lektüre G.m.b.H., Berlin 1916, Seite 9. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_Gespensterl%C3%B6we.pdf/10&oldid=- (Version vom 31.7.2018)