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Heinrich Heine: Drei und dreißig Gedichte von Heinrich Heine. In: Der Gesellschafter oder Blätter für Geist und Herz 1824, S. 242–258

Sie kämmt es mit gold’nem Kamme,
Und singt ein Lied dabei;

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Das hat eine wundersame,

Gewaltige Melodei.

Den Schiffer, im kleinen Schiffe,
Ergreift es mit wildem Weh;
Er schaut nicht die Felsenriffe,

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Er schaut nur hinauf in die Höh’.


Ich glaube, die Wellen verschlingen
Am Ende Schiffer und Kahn;
Und das hat mit ihrem Singen
Die Lore-Ley gethan.


 II.
Im Walde wandl’ ich und weine,
Die Drossel sitzt in der Höh’;
Sie springt und singt gar feine:
Warum ist dir so weh?
 

5
„Die Schwalben, deine Schwestern,

Die können’s dir sagen, mein Kind,
Sie wohnten in klugen Nestern,
Wo Liebchens Fenster sind.“


 III.
Am fernen Horizonte
Erscheint wie ein Nebelbild,
Die Stadt mit ihren Thürmen,
In Abenddämm’rung gehüllt.

5
Ein feuchter Windzug kräuselt

Die graue Wasserbahn;
Mit traurigem Takte rudert
Der Schiffer in meinem Kahn.

Die Sonne hebt sich noch einmal

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Leuchtend vom Boden empor,

Und zeigt mir jene Stelle,
Wo ich das Liebste verlor.


 IV.
Sey mir gegrüßt, du große,
Geheimnißvolle Stadt,
Die einst in ihrem Schooße
Mein Liebchen umschlossen hat.

5
Sagt an, ihr Thürme und Thore,

Wo ist die Liebste mein?
Euch hab’ ich sie anvertrauet,
Ihr solltet mir Bürge seyn.

Unschuldig sind die Thürme,

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Sie konnten nicht von der Stell’,

Als Sie mit Koffern und Schachteln
Die Stadt verlassen so schnell.

Die Thore jedoch, die ließen
Mein Liebchen entwischen gar still;

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Ein Thor ist immer willig,

Wenn eine Thörinn will.


 V.
So wandr’ ich wieder den alten Weg,
Die wohlbekannten Gassen;
Ich komme von meiner Liebsten Haus,
Das steht so leer und verlassen.

5
Die Straßen sind doch gar zu eng’!

Das Pflaster ist unerträglich!
Die Häuser fallen mir auf den Kopf!
Ich eile so viel als möglich!


 VI.
Still ist die Nacht, es ruhen die Gassen,
In diesem Hause wohnte mein Schatz;
Sie hat schon längst die Stadt verlassen,
Doch steht noch das Haus auf demselben Platz.

5
Da steht auch ein Mensch und starrt in die Höhe,

Und ringt die Hände vor Schmerzensgewalt;
Mir graust es, wenn ich sein Antlitz sehe –
Der Mond zeigt mir meine eig’ne Gestalt.

Du Doppeltgänger! du bleicher Geselle!

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Was äffest du nach mein Liebesleid,

Das mich gequält auf dieser Stelle,
So manche Nacht in alter Zeit?


 VII.
Wie kannst du ruhig schlafen,
Und weißt, ich lebe noch?
Der alte Zorn kommt wieder,
Und dann zerbrech’ ich mein Joch.

5
Kennst du das alte Liedchen:

Wie einst ein todter Knab’,
Um Mitternacht, die Geliebte
Zu sich geholt in’s Grab?

Glaub’ mir, du wunderschönes,

10
Du wunderholdes Kind,

Ich lebe und bin noch stärker,
Als alle Todten sind!


 VIII.
Die Jungfrau schläft in der Kammer,
Der Mond schaut zitternd hinein;
Da draußen singt es und klingt es
Wie Walzermelodeyn.

5
Ich will mal schau’n aus dem Fenster,

Wer drunten stört meine Ruh’;
Da steht ein Todtengerippe,
Und fiedelt und singt dazu:

Hast einst mir den Tanz versprochen,

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Und hast gebrochen dein Wort,

Und heut ist Ball auf dem Kirchhof,
Komm mit, wir tanzen dort.

Die Jungfrau ergreift es gewaltig,
Es lockt sie hervor aus dem Haus;

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Sie folgt dem Gerippe, das singend

Und fiedelnd schreitet voraus.

Es fiedelt und tänzelt und hüpfet,
Und klappert mit seinem Gebein,
Und nickt und nickt mit dem Schädel

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Unheimlich im Mondenschein.



Empfohlene Zitierweise:
Heinrich Heine: Drei und dreißig Gedichte von Heinrich Heine. In: Der Gesellschafter oder Blätter für Geist und Herz 1824, S. 242–258. Maurer, Berlin 1824, Seite 243. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_Gesellschafter_1824_page_243.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)