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die Einheit der nationalen Bildung um 1450, als der Humanismus in Deutschland eindrang? Es gibt eine Einheit der nationalen Tendenz. Sie ist damals, das habe ich zu zeigen versucht, vielleicht stärker als vorher. Aber sie ist nirgendwo bildungsmäßig geformt. Es gibt dafür einen schlagenden Beweis. Das ist die deutsche Stadtchronistik. Sie bringt höchst anziehende Daseinsschilderungen hervor, die schönsten vielleicht in der Schriftstellerei des Augsburgers Burkhard Zink. Aber wo sie sich auch nur zu einem zeitgeschichtlichen Aspekt zu erheben versucht, versagt sie. Eine Ausnahme bildet, auch das ist bezeichnend, die Schweiz. Im übrigen schwankt diese Chronistik hilflos zwischen Notizensammlungen, Familienbüchern und Weltchroniken mit lokaler Tendenz. – Suchen wir dann weiter nach naiven Äußerungen des ungebrochenen Volksgeistes in dieser Zeit, so finden wir sie noch am ehesten im Volkslied und im Volksbuch. Es war ein gesunder Instinkt der Romantiker, daß sie diesen ihre Liebe und ihren Eifer zuwandten. Aber beide sind am Ende der humanistischen Periode nicht abgestorben oder verdorben. Im Gegenteil. Das Volkslied hat erst in der Zeit von 1450 bis 1550 seine große Periode gehabt. Erst da hat es sich der großen Weltereignisse bemächtigt, und nur in dieser Zeit kann man deutsches Leben im Volkslied schildern, wie es Rochus von Liliencron so hübsch getan hat. Das Volksbuch aber fährt während dieser ganzen Periode fort, das Bildungsgut der mittelalterlichen Fabel- und Erzählungskunst zu überliefern, es fügt die neuen antiken Stoffe in naiver Eindeutschung hinzu und gewinnt aus eigenem Geiste in der freilich so fragwürdigen Gestaltung der Faustsage die erste Beziehung auf ein zeitgenössisches und speziell deutsches Problem. Es gibt um 1550 ganze Verlage, die diese Literatur pflegen, aber auch die Schriftstellerei Jörg Wickrams ist ohne die Fortdauer der Volksbuchtradition ganz undenkbar.

Vergleichen wir aber den Zustand des deutschen Geistes im allgemeinen, wie er am Beginn und am Schluß des humanistischen Jahrhunderts war, so kann jedenfalls an der außerordentlichen Erweiterung des geistigen Horizontes des deutschen Volkes kein Zweifel sein. Jetzt gibt es eine deutsche Geschichtsbetrachtung, wenn es auch noch keine deutsche Geschichte gibt, es gibt eine deutsche Weltbeschreibung, wenn sie auch nur eine Verkümmerung des Gedankens der Germania illustrata ist, eine deutsche Naturkunde,

Empfohlene Zitierweise:
Paul Joachimsen: Der Humanismus und die Entwicklung des deutschen Geistes. Aus: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 8. 1930, Seite 477. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_humanismus_(joachimsen)_059.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)