Seite:De humanismus (joachimsen) 054.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Dafür sind die sozial-politischen Bedingungen ebenso wichtig wie die geistigen. Zu jenen gehört der ganze Prozeß der Loslösung der Schweiz vom Reiche, außerdem aber der Versuch der größeren Städte, vor allem Zürichs und Berns, sich zu Territorien zu erweitern. Dazu kommt bei Zürich der von Zwingli persönlich geführte Kampf gegen das Reislaufen im allgemeinen und die französischen Pensionen im besonderen. Zu diesen gehört natürlich vor allem die Reformation selbst. Es ist doch höchst merkwürdig und bedeutsam, daß mit dem ersten Züricher Religionsgespräch eine Stadtgemeinde das wagt, was der deutsche Reichstag nicht gewagt hatte, die Entscheidung über die religiöse Wahrheit selbst zu treffen. Das ist dann das Vorbild für Nürnberg, Straßburg und viele andere Gemeinwesen geworden. Aber neben dieser religiösen Verselbständigung stehen, wenigstens in Zwinglis Geiste, die Bürgertugenden in ihrer antiken Form und ein ganz fester Gemeindebegriff. Die Gemeinde ist der Idee nach eine christliche Demokratie. Ihr Existenzgrund ist das aristotelische εὖ ζῆν als Bedürfnis des geselligen Menschen. Zwingli steht in ihr als der „Prophet“, der darüber zu wachen hat, daß der Gotteswille nicht durch den Willen der Gemeinde verfälscht wird. Die christianisierte Polis erzeugt eine geistig-geistliche Tyrannis, in der christliche, bürgerliche und antike Freiheit des Individuums nun wirklich in eins verschmolzen sind[1]. Das Ergebnis ist, wie ein schweizer Historiker sagt, die vom Staat geleitete Kirche, eine christliche Theokratie, die ihre Daseinsberechtigung aus der souveränen Entscheidung des Volkes schöpft.

Wollen wir die Mischung dieser Elemente in Zwinglis Weltanschauung, und zwar in ihrer spezifisch religiösen Form beobachten, so genügt es, wenn wir Zwinglis Schrift ’De providentia divina‘ aufschlagen. Sie ist die freie Wiedergabe einer Predigt, die Zwingli vor Philipp von Hessen anläßlich des Religionsgesprächs von 1529 in Marburg gehalten hat. Mit dem Hauptthema des Gesprächs, dem Sakramentsstreit, steht das Stück wenigstens durch seinen Grundgedanken im Zusammenhang. Zwingli will die Vergewisserung des Glaubens, die Luther wenigstens zum Teil aus der Realität der Symbole gewinnt, aus einer bestimmten Vorstellung von Gott und dem Zusammenhang der Welt ableiten, bei dem diese Vergewisserungen

  1. Hierfür bes. wichtig die Vorreden zum Iesias- und Ieremiaskommentar von 1531.
Empfohlene Zitierweise:
Paul Joachimsen: Der Humanismus und die Entwicklung des deutschen Geistes. Aus: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 8. 1930, Seite 472. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_humanismus_(joachimsen)_054.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)