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Problem der Gewißheit des Glaubens auf eine neue Ebene gehoben. Es wurde aus einer persönlichen Erfahrung eine Bezugnahme auf die Ur-Kunde der christlichen Religion. Glauben hieß jetzt nicht mehr bloß vertrauen, sondern auch für wahr halten. Und es lag in dem Vorgang des Bibelerlebnisses selbst begründet, daß die christliche Wahrheit jetzt an ein rechtes Verständnis der Schrift, an den Beweis ihrer Einheitlichkeit und Eindeutigkeit gebunden war. Daß dieser Beweis nur durch „die Sprachen“ erfolgen könne, hat Luther selbst nie bezweifelt. In einer berühmten Stelle seiner Schrift an die Ratsherrn deutscher Städte von 1529 hat er es klassisch ausgesprochen. Aber schon seine ersten Pläne einer Reform der Universität Wittenberg – sie sind vielleicht die Keimzelle seiner politisch-reformatorischen Absichten überhaupt – gingen von der gleichen Ueberzeugung aus und das Gleiche sehen wir am Schlusse der Reformschrift an den christlichen Adel.

Von diesen beiden Punkten aus konnte also eine humanistische Formung des neuen Glaubens versucht werden. Von dem einen Punkt ist Zwingli ausgegangen, von dem andern Melanchthon.

Zwinglis[1] Entwicklung vom erasmischen Humanisten zum Reformator ist bekanntlich so ohne Stöße und Anstoß verlaufen, daß er sogar den entscheidenden Einfluß Luthers auf sich geleugnet hat. Ebenso gehen bei ihm der schweizerische Patriot und der Kirchenmann widerspruchslos zusammen. Er ist nicht weit davon, Wilhelm Tell und Arnold von Winkelried in einer Reihe mit Niklas von der Flüe unter den Vätern der evangelischen Freiheit zu nennen. Jedenfalls ist er davon überzeugt, daß diese Freiheit nirgendwo natürlicher habe aufgehen können als in der freien Schweiz[2]. Damit bekommt auch sein ganzes Wirken als Reformator einen Bezug auf die Gegebenheiten seiner Züricher Gemeinde, der nirgendwo seinesgleichen findet, auch nicht bei den deutschen städtischen Reformationen. Erst bei Calvin sehen wir dasselbe Phänomen auf einer höheren Stufe. Man kann sagen: in dem Zürich Zwinglis sehen wir, wie eine deutsche Stadtgemeinde Polischarakter bekommt, d. h. zu demselben Bewußtsein ihrer Autonomie und Autarkie gelangt wie die italienischen Kommunen der Renaissance.

  1. Grundlage die große Biographie R. Stähelins, Huldreich Zwingli, sein Leben und Wirken nach den Quellen dargestellt. 2 Bde. Basel 1895–97. Dazu zahlreiche Arbeiten von Walther Köhler.
  2. Charakteristisches in Zwinglis ’Archeteles‘, (Werke I, 1905, S. 249 ff.).
Empfohlene Zitierweise:
Paul Joachimsen: Der Humanismus und die Entwicklung des deutschen Geistes. Aus: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 8. 1930, Seite 471. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_humanismus_(joachimsen)_053.jpg&oldid=- (Version vom 12.9.2023)