Seite:De humanismus (joachimsen) 037.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

fehlgreifen. Denn mit den ersten humanistischen Vaganten vom Schlage Peter Luders, mit den halbhumanistischen Juristen von der Art Gregor Heimburgs, deren Zeitgenosse er ist, hat er gar nichts zu tun. Er ist geistig auch jünger als der Elsässer Theologenkreis, mit dem er in Beziehung steht, und jünger als der Dalbergkreis, in den er vorübergehend eintritt. Seine wirklichen geistigen Genossen sind die Männer und Frauen der italienischen gebildeten Gesellschaft der reifen humanistisch geformten Renaissancekultur, in der er in Ferrara am Hof der Este lebt, sind Leute wie Polizian und Codro Urceo. Mit einer nirgendwo in Deutschland zu findenden Energie und Begabung gestaltet Agricola sich zu dem uomo universale und singolare, der eigentlich ein genialer Dilettant und vor allem ein Lebenskünstler ist. Das Petrarcasche Ideal der Kultur der Seele als Selbstzweck, aber hier, wie bei den Italienern seiner Zeit überhaupt, ganz säkularisiert und gesellschaftlich normiert, tritt in Agricola großartig auf. Es ist nicht unwichtig, daß er eine Biographie Petrarcas geschrieben hat, in der man ohne Mühe Selbstbekenntnis-Stellen entdeckt[1]. Und dieser selbe Mann nun verbringt Jahre seines Lebens als Schulmeister und Stadtschreiber in dem heimatlichen Groningen und hinterläßt als den eigentlichen Ertrag seines Lebens ein Werk, das sich ausdrücklich die Aufgabe stellt, die aristotelisch-scholastische Denkmethode durch eine andere, aus der humanistischen Anschauung geschaffene zu ersetzen. Denn das ist der Sinn der drei Bücher ’De inventione dialectica’. Hier nimmt Agricola den Versuch Vallas wieder auf, die logischen Prinzipien der Scholastik zu revidieren, ein System von Begriffen zu schaffen, die aus der Erfahrung gewonnen sind und durch die anschauliche Evidenz ihres Zusammenhangs das Finden von Neuem ermöglichen. Das Ganze aber bezogen auf die Welt des Altertums, auf das Wissen, das man aus den besten Autoren schöpfen muß, und geschaffen zu dem Zwecke, eine allgemeine Überzeugung von den Gütern und den Werten des Lebens zu ermöglichen. Es ist das humanistische Gesellschaftsideal in der besonderen deutschen, pädagogischen Form. Es wäre eigentümlich wertvoll gewesen, wenn Agricola den Plan der letzten Jahre seines kurzen Lebens ausgeführt, sich dem Hebräischen und der Theologie zugewendet hätte. Wir hätten vielleicht schon auf dieser Stufe eine aufklärerische

  1. Kritische Neuausgabe von L. Bertalot in ’La Bibliofilia’ hrsg. von Olschki, 1928, S.382 ff.
Empfohlene Zitierweise:
Paul Joachimsen: Der Humanismus und die Entwicklung des deutschen Geistes. Aus: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 8. 1930, Seite 455. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_humanismus_(joachimsen)_037.jpg&oldid=- (Version vom 15.12.2020)