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werden, wenn man nicht zunächst sagt, was es mit dem Humanismus des Erasmus überhaupt auf sich hat.

Ich versuche, die Antwort von der allgemeinen Fragestellung aus zu geben, die ich für den Humanismus diesen Ausführungen vorangestellt habe. Dann lautet sie so.

Mit Erasmus tritt das Problem der Formung und Normierung eines gegebenen Kulturinhalts durch die Antike in sein zweites, oder wenn man will, in sein drittes Stadium. Es handelt sich nicht mehr, wie bei Petrarca, um ein individualpsychologisches Problem, von dem aus sich dann zunächst ein persönliches Bildungs- und Lebensideal ergibt. Nicht mehr wie bei der italienischen Renaissance und bei dem deutschen romantischen Humanismus um eine Formung und Normierung einer national bestimmten Kulturtendenz, sondern um die Neugestaltung der abendländischen Kulturgemeinschaft, wie sie sich in der res publica christiana darstellt, als eines Ganzen. Das Lebensziel des Erasmus ist es, diese res publica christiana in ihrer dreifachen Ausprägung, als Hierarchie, als sakramentale Heilsanstalt und als organisches System zu einer Bildungsgemeinschaft umzugestalten. Dann wird aus der Hierarchie eine Erziehungsanstalt auf Christus, aus der sakramentalen Heilsanstalt ein christlicher Gesellschaftsverband, aus dem organischen System ein philosophischer Moralismus, der auf dem consensus opinionum über ein christliches Gesellschaftsideal beruht. Das Mittel zu all dem ist eine neue Gestaltung der Lehre Christi, diese Lehre, die mit seinem Wesen identisch ist, gesehen auf dem Hintergrund der neu verstandenen Antike. Die Humanitas wird als Bildungs- und Lebensbegriff auf das von verfälschenden Zusätzen befreite Christentum bezogen, sie soll humanitas christiana werden.

Zu diesem Zweck muß Erasmus zunächst die christliche Antike als einen besonderen Bezirk innerhalb der Antike selbst umgrenzen und ihr einen besonderen Platz in seinem Denksystem geben[1]. Sie reicht von Origenes bis zu den lateinischen Kirchenvätern.

  1. Eine neue Epoche in der Erasmusforschung bedeutet die mustergültige Ausgabe des Briefwechsels durch P. S. Allen seit 1906, Oxford. Die neueste Arbeit über ihn in deutscher Sprache I. Huizingas Erasmus, deutsch von Werner Kaegi, Basel, Schwabe 1918 ist reich an geistvollen Einzelbeobachtungen und zeigt ein besonderes einfühlendes Verständnis für die niederländischen Elemente im Wesen des Erasmus. – Für die Baseler Zeit des Erasmus ausgezeichnet R. Wackernagel, Humanismus und Reformation in Basel, in ’Gesch. der Stadt Basel’, Bd. III, 1924.
Empfohlene Zitierweise:
Paul Joachimsen: Der Humanismus und die Entwicklung des deutschen Geistes. Aus: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 8. 1930, Seite 450. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_humanismus_(joachimsen)_032.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)