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der Zeit die religiöse sei, daß es sich darum handle, so wie es schon die alte Mystik wollte, aus den immer stärkeren Verdinglichungen der Religion heraus den kurzen Weg zu Gott zu finden. Also eine erste restitutio christianismi, orientiert an einer freilich noch sehr undeutlich gesehenen christlichen Antike, aber als Mittel dazu nur eine nach allen Seiten kompromittierende Bildungsreform und als Heilung des Übels nur eine Bekämpfung der Symptome.

Man sieht nicht leicht, wie dieser Weg hätte weiterführen sollen. Die humanistische Bewegung in Deutschland ist denn auch nicht von dieser Gruppe halb humanistischer Theologen fortgeführt worden, sondern von einer anderen, den Poeten.

Bei ihnen sind die Wirkungen des italienischen Humanismus am deutlichsten. Für alle Mitglieder dieser Gruppe bedeutet die Italienfahrt nicht einen Studienaufenthalt, den man ebenso gut in Paris wie in Bologna nehmen kann, sondern ein Erlebnis. Bei ihnen allein ist das ästhetische Element das Primäre, erst von da aus schreiten sie weiter. Für die deutschen Verhältnisse ist es wiederum charakteristisch, daß sie Vaganten sind, d. h. daß sie in der Gliederung der deutschen Gesellschaft keinen Platz haben. Denn während in Italien die Erlebnis-Lyrik ihren Platz in der Gesellschaft niemals ganz verloren und durch Dante und Petrarca völlig gewonnen hatte, war sie in Deutschland mit der ritterlichen Poesie verfallen. Der Meistergesang, der den Minnegesang ablöst, bedeutet nicht nur die Beschränkung der Dichtung auf schulmäßige Themen, sondern auch die Verbürgerlichung des Dichters selbst und seiner Lebensführung. So erscheinen die humanistischen Poeten gerade in Deutschland als Außenseiter der Gesellschaft. Bei ihnen am ehesten kann man das humanistische Persönlichkeitsstreben beobachten, das in Italien den uomo singolare und den uomo universale erzeugt hat, das Streben nach Ausgleichung von Lebenstrieb und Allseitigkeit. Aber die gesellschaftliche Umwelt, die die Italiener vorfinden, müssen sich die Deutschen erst schaffen, und so nimmt bei ihnen der humanistische Wandertrieb, der ja schon Petrarca besessen hatte, und den man gern mit dem Beispiel des Orpheus, der alten Rhapsoden, oder gar der Apostel rechtfertigte, die Formen des Vagantentums, der fahrenden Schüler des Mittelalters an, und ein Stück von ihrem Geiste lebt in den Poeten wieder auf. Sie betrachten die neue Bildung, von der sie oft sehr

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Paul Joachimsen: Der Humanismus und die Entwicklung des deutschen Geistes. Aus: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 8. 1930, Seite 441. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_humanismus_(joachimsen)_023.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)