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Er bringt nach Deutschland die Erzählungskunst des Poggio, die historischen und biographischen Darstellungsmittel der Bruni- und Blondus-Schule, vor allem die durch Filelfo ausgebildete neue Kunst der Rede und des Briefes. Sein erster Wirkungskreis ist die Kanzlei. Unter den Notaren, den Schreibern und dann den Juristen findet er die ersten Anhänger, Verbreiter und Gegner seiner Lehre. Aber dann erfaßt er die ganze deutsche Bildungstendenz einer zu neuen Zielen strebenden Generation. Sehr wider seinen Willen erzieht er die Deutschen zur Rivalität mit Italien.

Die Unterschiede zwischen italienischer und deutscher Art der Entwicklung hat wiederum Enea mit dem Scharfblick des Menschen- und Völkerbeobachters gesehen: er findet bei den Deutschen eine Art von Freiheit, die er in Italien vermißt[1], und er meint, daß die Deutschen mehr nach der Natur als nach der „Meinung“ leben[2]. Nach ihm also fehlt in Deutschland sowohl die staatliche wie gesellschaftliche Entwicklung, welche in Italien durch die Renaissance der Polis geschaffen und durch den Humanismus geformt worden ist. Trotzdem übernimmt Deutschland – und das ist für den Fortgang der Bewegung entscheidend wichtig geworden –, sogleich die humanistischen Ideale, die der italienische Humanismus ausgebildet hatte, das des orator, des poeta und des philosophus. Ebenso sorgsam wie in Italien scheidet man diese in Deutschland von der alten Technik der Trivialschule und Artistenfakultäten. Weder den Redner noch den Dichter, noch den Philosophen soll man durch bloßes Erlernen von Regeln erreichen können. Zu jedem gehört ursprüngliche Anlage, ingenium, in jedem wohnt ein moralisches oder gar ein göttliches Element. Der orator ist der vir bonus, dicendi peritus des Cato, er ist vor allem Staatsmann und Staatskundiger[3]. Der poeta ist vates, der nächste Teilhaber der göttlichen Geheimnisse[4]. Der philosophus ist ebenso der göttlichen wie der natürlichen Dinge kundig, er ist der natürliche

  1. In der Germania.
  2. Im Pentalogus: magis natura quam opinione vivunt.
  3. Die Zusammenfassung der humanistischen Argumente für den orator am bequemsten in dem Valium humanitatis des Hermann v. d. Busche.
  4. Dies ergötzlich und populär, aber sehr charakteristisch in einem von G. Bauch, Gesch. d. Leipziger Frühhumanismus (1899) besprochenen Leipziger Quodlibet von 1497. Dazu die noch nicht gewürdigte Poetik Vadians von 1518 und die großartige Zusammenfassung der humanistischen Vorstellung vom Dichter bei Aventin, Chronik (S. W. IV) 422.
Empfohlene Zitierweise:
Paul Joachimsen: Der Humanismus und die Entwicklung des deutschen Geistes. Aus: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 8. 1930, Seite 436. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_humanismus_(joachimsen)_018.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)