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da zu Plato und Aristoteles. Der eine wird vollständig neu gewonnen, der andere aus der Verknechtung gelöst, in die ihn die Scholastik und die Araber gebracht haben. Von der Renaissance aus gesehen, vollzieht sich eine immer bestimmtere Formung des öffentlichen und persönlichen Lebens nach der Antike, eine Formung, die überall zugleich Normierung ist. Gerade dadurch wird der Daseinsindividualismus der Renaissance fähig, sich dem transzendentalen System des Mittelalters einzufügen. Die virtù des Renaissancemenschen bekommt, je länger je mehr, die Züge der römischen virtus, ja bald die der griechischen ἀρετή. Das Heidentum, das diese Renaissance zur Schau trägt, ist fast überall Schein und Draperie. Schon bei Petrarca heißt der Gegensatz gegen die Antike nicht Christentum, sondern Scholastik, und je weiter die humanistische Formung der Renaissance fortschreitet, desto mehr will die neubelebte Antike christlich, will sie Religion sein[1]. Im Florentiner Piatonismus wird sie das wirklich für eine Gruppe von ästhetisch denkenden Menschen, die aber nicht mehr wie Petrarca von dem romantischen Sehnsuchtsgefühl getrieben werden, sondern eine Rechtfertigung sicheren Besitzes suchen.

Denn dies ist nun das eine Ergebnis der humanistischen Formung der Renaissance, daß die großen Gegensätze von Natur und Übernatur, die die scholastische Doktrin in einem kunstvollen Stufenbau mit transzendenter Zwecksetzung vereinigt hatte, in einer letztlich ästhetisch gedachten Harmonie gesehen werden, deren Mittelpunkt der jeder Vervollkommnung fähige Mensch ist. – Das andere Ergebnis ist, daß dieser Mensch sich einer neuen sozialen Bindung einfügt, indem er die erste moderne Gesellschaft schafft. Ihr Kennzeichen ist der consensus opinionum, die stillschweigende Übereinstimmung über die Formen des Lebens, normiert nach obersten Prinzipien, deren Anerkennung durch den „human“ Gebildeten vorausgesetzt, aber der Diskussion entzogen ist. Sie ist nicht mehr Gemeinschaft, die auf naturgegebenem Zusammenhang beruht, nicht mehr Standesgesellschaft mit bestimmten Zeremonien des Eintritts, wie noch die ritterliche Gesellschaft des Mittelalters, die sie ablöst. Sie ruht auf reiner Konvention. Ariost ist ihr Produkt und zugleich ihr glänzendster Schilderer.

Diese Gesellschaft der Renaissance stellt die neue kulturelle Einheit Italiens dar, die schon Lionardo Bruni empfindet. Sie überdauert

  1. Selbst bei Valla ist das so, wie eine tiefergehende Analyse seines Traktats ’De voluptate ac de vero bono’ zeigt.
Empfohlene Zitierweise:
Paul Joachimsen: Der Humanismus und die Entwicklung des deutschen Geistes. Aus: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 8. 1930, Seite 429. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_humanismus_(joachimsen)_011.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)