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den erlesensten Menschen statt findet, und ihr köstliches Uhrwerk auf einmal oder nach und nach zertrümmert. Menschen nämlich von äußerst-zartem Gefühl haben ein Höchstes, wornach sie streben, eine Idee, an welcher sie mit unaussprechlicher Sehnsucht hangen, ein Ideal, auf welches sie mit unwiderstehlichem Triebe wirken. Wird ihnen diese Idee genommen, wird dies schöne Bild vor ihren Augen zertrümmert: so ist das Herzblatt ihrer Pflanze gebrochen, der Rest stehet mit unkräftigen, welken Blättern da. Vielleicht gehen mehrere Erstorbne dieser Art in unsrer Gesellschaft umher, als man es Anfangs glauben möchte, eben weil sie am meisten ihren Kummer verbergen, und das Gift ihres Herzens selbst ihrem Freunde verhehlen. Da Shakespear so wie alle Zustände der Seele, so auch diese Epoche des Hinsinkens oder der Verwirrung der Kräfte in mancherlei Situationen und Charakteren äußerst wahr und genau

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Johann Gottfried Herder: Zerstreute Blätter, Vierte Sammlung. Carl Wilhelm Ettinger, Gotha 1792, Seite 354. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Zerstreute_Bl%C3%A4tter_IV_(Herder)_372.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)