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Und wo bist du nun, edler Wahrheitsucher, Wahrheitkenner, Wahrheitverfechter – was siehest, was erblickst du jetzt? Dein erster Blick, da du über die Grenzen dieser Dunkelheit, dieses Erdenebels hinwegwarst, in welch anderm, höhern Lichte zeigte er dir alles, was du hienieden sahest und suchtest? Wahrheit forschen, nicht erforscht haben, nach Gutem streben, nicht alle Güte bereits erfaßt haben, war hier dein Blick, dein strenges Geschäft, dein Studium, dein Leben. Augen und Herz suchtest du dir immer wach und wacker zu erhalten, und warst keinem Laster so feind, als der unbestimmten, kriechenden Heucheley, unsrer gewohnten täglichen Halb-Lüge und Halb-Wahrheit, der falschen Höflichkeit, die nie dienstfertig, der gleißenden Menschenliebe, die nie wohlthätig seyn will oder seyn kann; am meisten, (deinem Amt und Beruf nach) der langweiligen, schläfrigen Halbwahrheit, die wie Rost und Krebs in allem Wissen und Lernen von frühauf an menschlichen

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Johann Gottfried Herder: Zerstreute Blätter, Zweite Sammlung. Carl Wilhelm Ettinger, Gotha 1786, Seite 419. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Zerstreute_Bl%C3%A4tter_II_(Herder)_419.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)