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nothwendiger Uebel; warum sollten wir uns noch unnöthige und künstliche schaffen? Die Schale des Todes, sie sei bitter oder süß, wartet Zeit genug auf uns; warum wollten wir sie uns, ehe wir sie kennen müssen, im Vorgeschmack verderben und uns mit einem Phantom schrecken, das in der Natur vielleicht nicht ist, in den Händen der Kunst aber viel weniger seyn dürfte.

Nicht aber die Bequemlichkeit blos, um derentwillen der Mensch doch schon viel thut, sondern auch die Wahrheit selbst scheint den gräßlichen Bildern zu wiedersprechen, in denen Kinder und Schwache sich so gerne den Tod denken. Wenn unsre Alltagsdichter immer und immer vom Todeskampf, vom Brechen der Augen, vom Röcheln, Starren, Entsetzen und Erbeben als vom Tod singen: so ist dies Misbrauch der Sprache: denn nicht Tod ist dies, sondern Krankheit. Habe ich nun wohl von der Anmuth des Hafens Begrif gegeben, wenn ich ihn mit den Stürmen des hohen Meers verwirre, aus denen er eben rettet, die sich in seine sanfte Ruhe

Empfohlene Zitierweise:
Johann Gottfried Herder: Zerstreute Blätter, Zweite Sammlung. Carl Wilhelm Ettinger, Gotha 1786, Seite 276. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Zerstreute_Bl%C3%A4tter_II_(Herder)_276.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)