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Zweifel hat es bei allen gebildeten Völkern vortrefliche Lehrsprüche gegeben, die, aus Erfahrungen der Weltgeschichte und des menschlichen Lebens abgezogen, Vieles in Einem darstellen und den gesunden Sinn eines Menschen für das Wahre und Nützliche sehr schärfen. Vorzüglich zeichnen sich unter ihnen die Sprüche der Morgenländer aus, die auch den Artikel des Glücks und der praktischen Weisheit erhaben und scharfsinnig behandeln; indessen zweifle ich, ob irgend Eine Nation der Erde das poco più und poco meno der menschlichen Glückseligkeit, d. i. den feinen Umriß in der Gestalt und Kunst des Lebens so klar und schön ausgedrückt habe, als es die Griechen thun konnten. Ihnen hatte die Muse jenen reinen Anblick aller Gestalten in Kunst und Dichtkunst, jenes unübertriebne und nichts übertreibende Gefühl für das Wahre und Schöne aller Art gegeben, das sich auch in der Philosophie nicht verläugnen konnte und ihren kürzesten Lehrsprüchen, ihren leichtesten Symbolen einen so klaren Umriß, eine so bedeutungsvolle

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Johann Gottfried Herder: Zerstreute Blätter, Zweite Sammlung. Carl Wilhelm Ettinger, Gotha 1786, Seite 262. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Zerstreute_Bl%C3%A4tter_II_(Herder)_262.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)