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austheilenden oder gar in ewigen Dunkel rathschlagenden Gewalt des Schicksals personificirten. So wie aber dieses nur die Metaphysik eines Lehrgebäudes war, die den gemeinen Gebrauch der Kunst und Mythologie weder bestimmen noch ändern konnte: so sind über den letzten, dan gemeinen Begrif, aus welchem jener nur entstand, alle Künstler, Dichter und Prosaisten einig. a)[1]


  1. a) Auch die genauern römischen Dichter entfernen sich nicht von diesem ursprünglichen Begrif, den alle Kunstwerke bezeichnen.

    Sed Dea, quae nimiis obstat Rhamnusia votis
    ingemuit, flexitque rotam

    sagt Claudian. Adsensit precibus Rhamnusia instis, sagt Ovid u. f. Es wäre also Zeit, die falschen oder unbestimmten Begriffe der gemeinen Mythologie hierinn zu ändern. Wenn Banier z. B. die Nemesis als eine Höllengöttin betrachtet, wenn Simon (Mem. de l’ Acad. des Inscr. T. v. p. 351.) sie als eine blutgierige Kriegsgöttin ansieht, die der ausziehende Feldherr mit dem Blut und Tode der Fechter habe versöhnen wollen u. f. so ist von dem Allen deine Sylbe Wahrheit. Die [247] Nemesis des Volks wollte er durch die Spiele versöhnen, daß es ihm nichts Böses nachwünschte: auch seine eigne Nemesis wollte er sich zur Freundin machen, damit er sich dieser Ehre nicht überhübe; das wollte die Versöhnung der Nemesis sagen. Auch Winkelmann hat den bestimmten Begrif dieser Göttin nicht immer im Auge behalten und sie bald mit Schicksal, bald mit einer Art Nachgöttinn verwechselt. Seine vorgeschlagene Allegorie z. B. von der den Verbrecher ereilenden Rache unter dem Bilde einer Nemesis, die ihm die Hand auf die Schulter legt (Allegor. S. 145.) ist daher ganz unbestimmt; vielmehr würde dies Bild sagen, daß die Göttin des Maasses den vor ihr Gehenden liebreich einhalte und ihn warne. Der Witz jenes Leo von Byzanz verführte unsern Allegoristen, daß er den ganzen Begrif der Nemesis aus ihm bestimmte. Leo sagte nämlich einem Bucklichten, der ihm die Schwäche seiner Augen vorwarf: „Mich tadelst du über ein menschliches Unglück, du, der die Nemesis selbst [248] auf dem Rücken trägt!“ Allein so schön diese Antwort ist: so kann und will sie nichts weniger sagen, als daß Nemesis Rache oder Wiedervergeltung bedeute. Der Gebrechliche hatte sie auf dem Rücken getragen, ehe er schalt und der Witz liegt also nur darinn, daß Er die Göttin, die dergleichen Vorwürfe haßend bemerkt, vergeßen und verachten könne, die ihm doch gleichsam sichtbar auf dem Rücken sitze, da sie andern nur von fern und verschwiegen nachtrete. - So nimmt auch Gori (Mus. Etrusc. p. 48. Tab. 15. Fig. 1. 2. compend. Schwebel.) Figuren für Nemeses, die es schwerlich sind, weil er sich gleichfalls keinen bestimmten Begrif von dieser Göttin machte.

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Johann Gottfried Herder: Zerstreute Blätter, Zweite Sammlung. Carl Wilhelm Ettinger, Gotha 1786, Seite 246. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Zerstreute_Bl%C3%A4tter_II_(Herder)_246.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)